Kapitel 28

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17.07.2020, Budapest, Ungarn

Heute sind es fünf Jahre. Fünf Jahre, seit ich meinen Bruder verloren habe. Ich erinnere mich noch, als das Telefon geklingelt hat damals. Es war später Abend, ich lag schon im Bett denn ich hätte am nächsten Tag, einem Freitag, eigentlich Schule gehabt. Aber dann hat das Krankenhaus angerufen. Jules Zustand würde sich rapide verschlechtern und sie gehen nicht davon aus, dass er die Nacht überlebt.

Schon wieder drehe ich mich unruhig um. Irgendwie will der Schlaf heute einfach nicht kommen. Seit mehr als einer Stunde wälze ich mich hin und her, dabei sollte ich eigentlich langsam mal schlafen, denn morgen ist Schule. Und ich will Abends zu Charles nach Monaco fahren mit dem Zug. Er und ich wollen einen Filmabend machen und ich schlafe dann auch bei ihm. Seit dem Unfall meines Bruders sind wir noch enger zusammen gewachsen.

Unten kann ich das Telefon läuten hören. Merkwürdig, wer ruft denn bei uns um 23:18 Uhr an?

Mit einem komischen Gefühl stehe ich auf und schleiche aus meinem Zimmer, die Treppe ein Stück nach unten. Ich kann Papa im Wohnzimmer telefonieren hören, dann legt er auf und die nächsten Worte an meine Mutter reißen mir hier draußen den Boden unter den Füßen weg.

„Das war das Krankenhaus. Jules geht es schlechter und wir sollen vorbei kommen."

Es dauert nicht lange, dann kommen die beiden raus und sehen mich weinend auf der Treppe sitzen. Wortlos stehe ich auf, ziehe mir mit ihnen Schuhe an und dann fahren wir ins Krankenhaus. Keiner von uns sagt ein Wort, es herrscht eine gespenstische Stille zwischen uns. Auch nachdem Papa geparkt hat und wir rein gegangen sind, schweigen wir. Die Schwestern auf Jules Station sehen uns mitleidig an. Die meisten von ihnen kennen wir mittlerweile alle mit Namen, aber das ist ja auch irgendwie klar. Immerhin kommen wir seit fast 9 Monaten so gut wie jeden Tag her.

Maman und Papa halten sich an den Händen, als wir ins Zimmer gehen. Jules sieht einfach nur aus, als würde er schlafen. Die Beatmungsgeräte konnten damals schon in Japan noch weggenommen werden, deswegen konnten wir ihn nach Hause holen. Seine braunen Augen, die aussehen wie meine, hat er geschlossen und er sieht so friedlich aus. Das einzige was mich stört sind die ganzen Kabel und Maschinen, das Piepen und wie blass er ist.

Wir sind noch nicht lange im Zimmer, dann kommt einer seiner Ärzte rein und spricht mit unseren Eltern. Ich kann nicht zuhören, will nicht zuhören. Denn ich weiß ganz genau was jetzt passieren wird.

Jules wird sterben. Das hier sind die letzten Augenblicke, die ich mit ihm verbringen kann.

Mir dessen bewusst, klettere ich einfach in sein Bett und lege meinen Kopf auf seine Brust. Ich kann sein Herz schlagen hören, kann es fühlen. Ich kann die wenige Wärme die von ihm ausgeht an meiner Haut spüren. Meine Arme hab ich ebenfalls um ihn geschlungen und schließe meine Augen.

„Ich hab dich lieb Jules. So lieb. Ich werde dich schrecklich vermissen, hörst du mich? Ich hab dich lieb."

Immer wieder flüstere ich diese Worte, bis meine Kehle wie zugeschnürt ist.

Das letzte bisschen Hoffnung verschwindet nun endgültig aus mir. Mir wird kalt, es fühlt sich an als würde eine Eishand nach meinem Herzen greifen. Tränen beginnen über meine Wangen zu fließen, durchnässen sein Oberteil. Meine Schluchzer kann ich gerade so zurück halten.

Wir liegen die halbe Nacht so da. Ich bei ihm im Bett, eng an ihn gekuschelt. Irgendwann kann ich spüren, dass sein Herzschlag immer langsamer wird, immer langsamer, immer schwächer. Die Tränen fließen immer mehr über meine Wangen, stumme Schluchzer schütteln mich.

You were there for me - Lando Norris FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt