3 | Final Countdown

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Die wollen mich heute alle verkackalbern oder? Peggy Sue ist los ... Das kann er doch nicht ernst meinen. Der Feierabend schreit schon förmlich nach mir.

Dadurch, dass ich mir noch einen Schluck von meinem Cocktail genehmige, verschaffe ich mir Zeit. Dabei linse ich vorsichtig über das Glas zu Claus. Der wiederum starrt lediglich in sein eigenes Gesöff. Irgendwie habe ich gedacht, dass er nur darauf wartet, bis ich zu ihm schaue.

»Willst du gar nichts Wytypisches erwidern?«, hakt er nach, als wüsste er, dass ich ihn anglotze.

»Ich habe eher darauf gehofft, dass noch mehr kommt«, erwidere ich.

»Meine Frau ...«, setzt er zu meinem Erstaunen stockend an, doch er spricht nicht weiter. Durch sein Gesicht ziehen sich Furchen, in denen sich die Qualen seines Inneren nach außen zu fressen scheinen. Zumindest verschaffen sie sich einen Ausdruck.

Mit meinem angelehnten Fuß stoße ich mich vom Schrank ab und gehe näher an ihn heran; will ihm damit signalisieren, dass ich da bin; ihm zuhöre, wenn er so weit ist.

Er öffnet seinen Mund einen Spalt, seine Lippen bewegen sich, doch kein Ton dringt heraus. Ich lege ihm meine Hand auf seine. Es ist okay. Wenn er noch nicht so weit ist, ist es okay. Jeder in seinem Tempo.

Er presst seinen Lippen zusammen, schüttelt seinen Kopf und blickt mich daraufhin an. Nach einer Pause versucht er zum wiederholten Male zum Sprechen anzusetzen. »Meine Fff...«

»Claus, es ist wirklich in Ordnung. Vielleicht beim nächsten Mal, hm?«

Geknickt lässt er seinen Kopf sinken. Sein ganzer Körper scheint in sich zusammenzufallen, als hätte er bis eben unter höchster Anspannung gestanden und wäre von der Stromleitung befreit worden.

»Es ist okay«, wiederhole ich.

»Danke.« Die Furchen ziehen sich zurück, bis auf die alterstypischen Falten.

Ich bleibe noch bei Clausi stehen, um ihm damit Trost spenden zu können. Ein jeder hier hat Verständnis für den anderen, nimmt Rücksicht und wartet, bis er an der Reihe ist – sei es für ein Gespräch oder Getränk.

Das ist das Gute an dem Tod, wenn wir es mal positiv betrachten wollen. Wir achten aufeinander.

Verständnis und Rücksicht, möglich auch ohne Licht. 

Die Türglocke katapultiert mich zurück ins Jetzt. Auch das noch. Uns bleiben zwei Minuten. Bleibt mir heute eigentlich überhaupt nichts erspart?

Meine Hand ziehe ich von Clausis weg, um in die Hände zu klatschen. »Ihr wisst, was zu tun ist, also hopp!«, rufe ich in die Runde.

Der Countdown läuft herunter. Er wird direkt über der Tür angezeigt. Wir haben noch knapp achtzig Sekunden.

»Clausi, was machst du da? Ich sehe dich volle Kanne. Komm schnell hierher«, spreche ich so laut wie nötig, aber genauso leise wie möglich zu ihm.

Er quält sich unter dem Mobiliar der Sitzgruppe hervor, bei dem nur seine Füße versteckt waren, sein Bauch insbesondere jedoch nicht mal ansatzweise einen Platz darunter gefunden hat. Er hechtet zu mir hinter die Theke. Noch einmal gleitet mein Blick über die Tür. Noch achtzehn Sekunden.

Clausi atmet ziemlich hektisch. Meinen Finger lege ich senkrecht auf meine Lippen und dann nehme ich genau vor dem Guckloch im Tresen Platz und schiele hindurch.

Meine Verantwortung, weil meine Bar – also auch meine Pflicht, das ist klar.

In zehn Sekunden wissen wir, wer hier zum ersten Mal hereinschneit. Immer wieder aufs Neue beginnt mein Puls zu rasen, strömt eine ungeheure Nervosität und zugleich Aufregung durch meine Venen. Von wegen heute ist kein Feiertag.

Links-Auge und Riesen-Ohr haben sich bestmöglich unter dem Ecktisch verstecken können und sind zusätzlich durch die Jukebox abgeschirmt. Azur und Marine, die zwei Schnuckis mit ihrer blauen Kleidung, der sie ihren Namen verdanken, die überhaupt nicht laaaangweilig sind ... Konzentrier dich, Wy. Sie haben sich in dem Wandversteck verkrümelt. Na ja, eigentlich ist es ein Wandschrank, aber in solchen Momenten wird es zu einem Versteck. Und die beiden schlanken Frauen passen da gut rein ... Äh, von ihrer Größe her.

Und Clausi ist bei mir. It's The Final Countdown ... schwirrt mir durch die Birne.

Die Zeit ist abgelaufen. Jeden Augenblick müsste die Tür aufgehen. Und in einem der nächsten Momente werden wir Gewissheit haben. Vielleicht aber stockt die Person vor der Tür. Das lässt jedoch keine voreilige Schlussfolgerung zu. Wir müssen warten. 

Wenn die Person umgedreht ist, puh ... Hoffen wir es nicht, denn das wäre Mist und wir würden es nicht erfahren. Nicht direkt zumindest. Das könnte bedeuten, dass wir Stunden ausharren müssen oder jemand traut sich nachzusehen. Aber wir wissen nicht, was dann geschehen wird, welche Konsequenzen es mit sich ziehen würde. 

Ich blicke mich nochmals um, alle scheinen noch in ihrem Versteck zu sein. Gut. Es ist so still, dass es einem schon wieder zu laut vorkommt. Die Atemzüge von Claus, obwohl sie sich normalisiert haben, sind so einnehmend, dass sie mich wahnsinnig machen könnten.

Ein Quietschen – die Tür könnte wohl mal wieder einen Schlag Öl vertragen – ertönt, was meinen Fokus wieder zurechtrückt. Gebannt und mit angehaltenem Atem schaue ich hin.

The Final Countdown ... 

SonderbarWhere stories live. Discover now