27 | Schockierender Antrieb

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»Vielleicht; vielleicht aber auch nicht«, erwidere ich plump und weiß noch nicht einmal, ob das eine halbwegs sinnige Antwort auf ihre Aussage war. »Na, dann stell deine Frage.« Was habe ich schon zu verlieren? Manchmal hat es mich sogar schon abgelenkt.

»Ich hoffe, du wirst es bald verstehen, was ich damit meine.«

»Das war jetzt aber keine Frage oder?«, versuche ich mir selbst einen Launenumschwung zu verpassen. »Krause-Stirn, das war ein Scherz«, füge ich an, als ich sehe, wie sie grübelt.

»Myst!«

»Ja doch, Myst«, bestätige ich mit einem Salut. »Na los, deine Frage.«

»Warum benennst du alle mit einem Spitznamen?«

»Das interessiert dich wirklich?«

»Ja, natürlich.«

»Wie kommst du darauf, dass sie nicht so heißen?«

»Also Wy, ernsthaft? Hältst du mich für so blöd?«

»Nein, aber stell dir mal vor, jemand sagt dir, er heißt Blödmann und scheint das echt so richtig ernst zu meinen, was dann?«

»Das ist jetzt ein komisches Beispiel«, erwidert sie direkt.

»Eigentlich ist es ziemlich egal, was ich als Beispiel nehme. Wie würdest du reagieren, wenn sich jemand bei dir vorstellt – ob es nun den Namen betrifft oder etwas vollkommen anderes, mit dem du einfach nicht gerechnet hast?«

»Schockiert oder überrascht? Je nachdem.«

»Menschlich«, erwidere ich ehrlich gemeint.

»Und du?«

»Das ist deine komplette Antwort? Da habe ich mit mehr gerechnet.«

»Aber dann wird es ja keine Diskussion«, sie zwinkert mir zu, als sie das sagt. »Natürlich ist das nicht alles.«

»Na dann.« Eine Diskussion kann ich nun echt nicht gebrauchen. Ablenkung ja, aber no, nicht das.

Sie schaut zur Seite, fixiert einen unsichtbaren Punkt und ich ihre silbrigen Haare, wodurch ich nur den Ansatz ihrer Nase sehen kann, die sich leicht bläht. Sie kräuselt ganz sicher gerade ihre Stirn.

»Ich würde nachfragen«, antwortet sie nun, als sie sich mir wieder zuwendet. »Und ja, du hast recht. Wenn es ehrlich so ist, dann ist es so. Wer bin ich denn, es zu entscheiden?!«

»Gut.«

Da ich davon ausgehe – sie entfernt sich –, dass sie wieder an meinen Arbeitsplatz verschwindet, kann ich mich ja wenigstens meinem Drink widmen. Auf dein Wohl – Rock 'n' Roll. Gerade hebe ich das Glas an, da kommt sie wieder einen Schritt zurück.

»Aber Wy?«

»Hm?« Was denn nun noch?

»Ich weiß, dass es ihre Spitznamen sind.«

»Woher denn?«

»Also erst einmal heiße ich nicht Krause-Stirn und ich weiß, dass Claus oder Clausi nicht Claus oder Clausi heißt.«

Ich grinse sie breit an. »Erwischt.«

»Und?«

»Was und?«

»Was wohl?«

»Du musst mir auf die Sprünge helfen.«

»Warum die Spitznamen?«

»Findest du es doof?«

»Fand ich, aber jetzt möchte ich es einfach nur verstehen.«

Auch wenn mich der kurze Schlagabtausch bereits wieder wertvolle Energie gekostet hat, obwohl das ja einem Streichelzoo statt einer Safari glich, lächle ich zufrieden.

»In Ordnung«, willige ich nun ein, worüber sie sich sichtlich zu freuen scheint. »Setz dich doch auch hin«, bitte ich sie. Komischerweise gibt mir das Gespräch Auftrieb zurück; genauso auch mein Gefühl zu mir selbst wieder.

Sie nimmt mir gegenüber Platz. »Guck dir mal Clausi an. Seinen Bauch und die rote Nase.« Ich muss lachen. »Nein, Quatsch, dann hätte ich ihn wahrscheinlich eher Rudi nach Rudolph genannt. Er erinnert mich jedoch an Santa. So gutmütig wie er ist. Und dazu sein Bauch.« Wir beide schauen automatisch zu ihm rüber. Clausi ist wirklich ein fantastischer Mensch. Mein Blick huscht früher zurück und ich sehe sie zustimmend nicken.

Als sie sich wieder mir widmet, zeige ich auf Links-Auge. »Ihr linkes Auge – schau es dir irgendwann einmal genau an – ist wahnsinnig faszinierend. Genau das macht sie aus. Ja, ich weiß. Viele würden das als Makel betrachten, aber ich finde, dass genau diese Besonderheit sie ausmacht. Es ist ihrs. Und ich finde es wunderschön.«

»Das werde ich noch machen«, flüstert sie.

»Azur und Marine kamen beide in ihrer blauen Kleidung hier an. Es sind Namen, die mir spontan eingefallen sind. Okay, es sind bei allen spontane Namenseingebungen. Doch bei ihnen steckt etwas anderes dahinter. Sie sind zusammen erschienen und ich wollte ihnen Namen geben, die das widerspiegeln, was sie ausstrahlen. Eine Einheit, eine wundervolle Bindung.« Auf die ich schon öfter neidisch war, ihnen dennoch immer gegönnt habe.

Mit einem Strahlen in den Augen schwärmt sie: »Was für ein schöner Gedanke.«

»Danke. Und nun noch Riesen-Ohr. Wie du sicherlich bereits gesehen hast, hat er kein riesiges Ohr. Weder rechts noch links. Und, oh nein, er labert dir auch nicht die Hucke voll. Gott sei Dank! Es ist genau das Gegenteil, du kannst dein großes Ohr in seiner Nähe entlasten. Seine enorm große Belastungsgrenze zeigt sich nicht nur dabei. Die muss er ja auch haben, wenn er jeden – wirklich jeden – verdammten Tag Peggy Sue hören muss

»Wow. Damit habe ich wirklich nicht gerechnet, dass bei allen so viel und so was dahintersteckt.«

»Mhm.« Das vermuten wahrscheinlich die wenigsten, daraus mache ich aber keinen Vorwurf. »Und deinen, Krause-Stirn ... Das heißt, wenn du es überhaupt noch wissen möchtest?«

»Gerne«, flüstert sie beinahe so leise, dass es kaum verständlich war. Ihr Nicken ist auf jeden Fall hilfreich.

»Schon mal vorab. Es ist nicht negativ, auch wenn du das eventuell ... Hm ... ziemlich wahrscheinlich sogar gedacht hast. Ich finde es überaus faszinierend, schön, aufregend, niedlich und einmalig, wie sich bei dir die Stirn kraust und sich dadurch die Haare mitbewegen und sich deine Nase leicht bläht. Ein wunderschönes Merkmal. Außerdem zeigt es, dass du nicht naiv bist, du forderst und fragst nach. Du stehst für dich ein!«

Verblüfft schaut sie mich an. »Hast du nicht damit gerechnet?«, hake ich nach.

»Ganz und gar nicht.«

»Ich dachte, nach dem ich dir die anderen erläutert habe, dass–«

»Das ja, ich hatte keine Sorge mehr, dass ein Shitstorm auf mich zukommt, aber dennoch«, unterbricht sie mich. »Ich habe schon vieles über meine Stirn gehört, aber nicht so was.«

»Alles hat mehrere Seiten, Myst.«

»Nicht Krause-Stirn?« Sie zwinkert mir zu.

Ich verstehe den Wink. Jetzt ist sie diejenige, die ablenken will. Alles klar. Ich nehme einen Schluck von meinem Devil's Blue Eyes – es ist immer noch skurril mit dem Namen – und betrachte Krause-Stirn, wie sie ins Grübeln kommt.

Auch in mir werden Gedanken neu entfacht. Ob sie wegen ihrer Stirn gehänselt wurde? Aber meine Eingebungen wandern auch noch woandershin. Ich stimme mir selbst zu. Alles hat mehrere Seiten. Alles.

»Und gibt es einen Spitznamen für dich?«, hakt sie – wieder gelassener – nach.

»Natürlich.«

»Und welchen?«

»Wy.« 

SonderbarOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz