5 | Gewöhnungsbedürftige Macken

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»Mach dir nichts draus. Wy beißt nicht«, meint Links-Auge, die zu uns stößt. »Es ist seine Pflicht. Aber der ist harmlos.« Sie stellt sich so zwischen uns, dass wir einen Dreier-Kreis bilden. »Wy begrüßt und empfängt hier alle. Also selbstredend, nachdem sie bei den Oberen waren«, quatscht sie weiter auf die Neue ein.

Myst lächelt ihr entgegen. Sie kann also auch schneller reagieren. Wow! Als sie ihren Kopf zu mir schwenkt, bleibt es noch auf ihrem Gesicht erhalten. Ein Anfang.

»Ich war bei den Oberen, aber von einem Armband haben sie nichts erzählt«, wiederholt sie noch einmal.

Links-Auge schaut mich an. »Vielleicht gibt es mal wieder ein Update?«

»Möglich. Aber wieso waren sie nicht mit ihr an der Anzeigetafel?«

»Wer weiß?!«

Mysts Kopf ruckt hin und her – sie versucht den Sinn hinter unseren Worten zu begreifen. Das ist zu spüren. Dadurch bin ich hin- und hergerissen. Soll ich ihr jetzt gleich alles erklären? Das könnte viel zu viel werden; sie regelrecht in den Wahn befördern. Warum haben die nicht ihren Job vernünftig getan?

Und was ist heute nur für ein Tag? Einer, an dem dich keiner mag?! Schlimmer kann es doch wirklich nicht mehr werden!

Links-Auge breitet ihre Arme aus. »Willkommen im Schwellenreich, im Port der Ruhe, an der Grenze zwischen allem.«

»Ey, das ist mein Text!«, beschwere ich mich mit tadelndem Zeigefinger bei Links-Auge, sie jedoch zuckt nur mit den Achseln.

Zwar habe ich mich einerseits beklagt, andererseits bin ich froh, dass sie mir die Entscheidung abgenommen hat und zu was anderem übergangen ist.

»Willkommen im Schwellenreich, im Port der Ruhe, an der Grenze zwischen allem«, wiederhole ich meinen Begrüßungstext an Myst gewandt. »Und natürlich willkommen in der Sonderbar«, füge ich mit meinem zuckersüßen Lächeln hinzu.

»An der Grenze zwischen allem ...«, flüstert Myst beinahe ehrfürchtig. »Also bin ich wirklich in der Zwischenwelt?« Ihre Worte werden immer leiser.

Ich warte ab. Bis sie mich ansieht, dann nicke ich ihr zu. Ihre Reaktion ist nicht ungewöhnlich. Eher gewöhnungsbedürftig. Für uns alle. Solche Infos müssen erst einmal verdaut werden.

Ich deute mit meinem Finger auf den Tresen. »Ich bin der Barkeeper, aber nicht nur. Fast immer bin ich hier; begrüße die Ankommenden; begleite euch auf eurem Weg in der Zwischenwelt, um hier zurechtzufinden, aber auch um weiterzukommen.«

Als ich ihre Mimik beobachte, um erahnen zu können, wie sie diese Informationen aufnimmt, scheint mir, als würde sie konzentriert lauschen. »Und wenn ihr Redebedarf habt, dann könnt ihr euch an den Tresen setzen. Dann weiß ich Bescheid. Auch wenn du das Thema gerade nicht zu fassen bekommst. Vielleicht schaffen wir es gemeinsam. Aber immer in deinem Tempo und so wie du kannst und möchtest.«

Da das für den Anfang genügen sollte – vor allem für diesen merkwürdigen und wirklich sonderbaren Start –, gehe ich Richtung Theke. Dabei achte ich darauf, ob sie mir folgt. Aber nein, ich höre keine Schritte. Sie bleibt an Ort und Stelle stehen. Das ist auch vollkommen in Ordnung, dennoch ... 

Sie überstrapaziert schon jetzt meine Nerven. Den Grund kann ich nicht richtig fassen. Weil sie einen cooleren Namen als meinen Spitznamen hat? Unbeirrt – zumindest hoffe ich, dass es so wirkt – setze ich meinen Weg fort.

Hinter der Theke fällt mir direkt auf, dass Clausi nicht mehr auf dem Barhocker sitzt. Ich blicke mich um. Eine Übersicht zu haben, ist das A und O in einer Bar. Schnell habe ich ihn ausfindig gemacht. Er hat sich zu Azur und Marine begeben. Wir nicken uns zu.

Riesen-Ohr sitzt in der Nische in der Nähe der Jukebox, an der Links-Auge ebenfalls wieder zurückgekehrt ist. Ein Song von Johnny Cash fängt gerade an.

Alles scheint gut. Außer ... Hm. Was auch immer es mit Myst auf sich hat. Später. Darum kümmere ich mich später. Oder es löst sich von alleine.

Die Gedanken wegschiebend, platziere ich mich hinter dem Tresen. Mit meinem professionellen Lächeln schaue ich sie an. Ein paar weitere Sekunden bedarf es, um mich zu überwinden. »Welcher Cocktail darf es sein, Myst?«

Ihre Augen blitzen auf. Ihre Pupillen, ... als würde sich je ein Stern dort drin spiegeln. Langsam schreitet sie Schritt für Schritt näher an den Tresen. Ihre Mundzüge ziehen sich nach oben; ihre schmalen Lippen formen ein Grinsen. »Den Hidden Fall.«

Ich kann es nicht zurückhalten, laut muss ich anfangen zu lachen. So sehr, dass ich dabei meine Augen zukneifen muss. Sie hat Klasse!

Und dann ... 

Fuck, was für eine heilige Kacke! Als ich meine Augen wieder öffne, ist sie nur noch ein paar Zentimeter, wenn überhaupt, von mir entfernt. In der Zwischenzeit hat sie sich auf einen Platz mir gegenüber niedergelassen und beugt sich weit nach vorne über die Platte. 

Sie hat eine Macke. Was ist nur los mit ihr?

SonderbarWhere stories live. Discover now