6 | Mist oder Myst

100 24 170
                                    

Was für ein groteskes Bild.

Bis einschließlich ihres Brustkorbes liegt ihr Körper auf der Theke. Das Gesicht eher zur Platte gerichtet, aber nicht vollends, da sie ihr Kinn mit der Hand abstützt. Ihre grauen, beinahe silbrigen Haare – die nicht zu ihrer sonst jungen Erscheinung passen – liegen zu beiden Seiten ihres Kopfes quer auf dem Tresen. Als hätte sie die extra mit ihren Fingern so drapiert.

Und das muss ich alles nachher sauber machen ...

Ich räuspere mich und suche Schutz hinter dem Mixer. »Dann bereite ich dir mal dein zukünftiges Stammgetränk zu.« Ein gequältes Lächeln ringe ich mir ab. Immer freundlich bleiben. Das gehört zum Job dazu.

Sie macht ihrem Namen wirklich alle Ehre. Ihre eisblauen Augen schielen nach oben, damit sie etwas sehen kann.

Ist sie auf der Suche nach etwas Bestimmten? Ich auf jeden Fall – nämlich nach einer anderen Beschäftigung. Doch zu meinem Leidwesen sitzt kein anderer am Tresen, niemand Neues ist hereinmarschiert und niemand winkt mich heran. Mist. Oder eher Myst. Meine jetzige Aufgabe.

Nach dem ich etwa zehn Minuten länger als nötig den Drink im Mixer gelassen habe, schütte ich ihn um. Wie kann es sein, dass mich eine junge Frau derart aus der Fassung bringen kann? Ich muss wieder Herr über diese Situation werden. Das ist ja unmöglich!

Erneut mit diesem komischen professionellen Lächeln gehe ich zu ihr hin. Ich warte, bis sie sich einigermaßen vernünftig auf dem Barhocker platziert und stelle ihr den Drink hin. »Ein Hidden Fall.« Für ein Hidden Case, denke ich mir dazu.

»Dan«, sie hebt das Glas an, »–ke.« Dann nippt sie daran. »Mmhm.«

Ob ich je aus ihr schlau werde? Wer weiß das schon? Irgendwann ist immer das erste Mal und vielleicht wird sie die Erste sein, mit der ich nicht klarkomme.

Da sie keine Anstalten macht, ein Gespräch zu beginnen, wende ich mich den Aufgaben als Barkeeper zu. Ich säubere den Mixer sowie Shaker und alle dafür zugehörigen Teile, wische die Theke und den Tresen ab, verräume Zutaten für Drinks in verschließbare Gefäße – heute oder eher momentan scheint ja hier Flaute zu sein –, kehre den Boden, der das überhaupt nicht nötig hat und mache noch aller Hand anderes Zeug, nur um mich von ihr abzulenken.

»Wie ist der Ablauf hier?«

Theatralisch drehe ich mich zu ihr um. »Hast du gerade gesprochen? Mit mir? Sorry, kannst du das wiederholen, du hast mich kalt erwischt«, galoppieren mir meine Gedanken über die Zunge.

»Sehr witzig ...«

»Danke«, entgegne ich extrem gekünstelt. »Dieses Lob nehme ich sehr gerne an.« Doch ich habe meine Aufgabe hier, entsinne ich mich. Also gebe ich ihr die Chance, sich zu wiederholen; bleibe bei ihr stehen und schaue sie aufrichtig an.

»Der Ablauf, wie ist der hier?«, überwindet sie sich erneut zu fragen und ich bin kurz davor zu applaudieren. Wir haben wohl alle unsere Macken ...

»Um jemanden zu zitieren«, ich ziehe meine eine Augenbraue hoch und schenke ihr einen, wie ich denke, gewissen Blick, den sie verstehen sollte, »das ist eine komplexe Frage.«

»Woher bekomme ich Informationen, wie mein Ablauf hier ist?«

»Von den Oberen.«

»Aber da war ich.«

»Ja, das erwähntest du.«

»Und nun?«

»Keine Ahnung.« Damit ist das Gespräch für mich beendet, die Dosis an Myst muss kleingehalten werden, wie ich merke. Der Geduldsfaden ist kurz.

»Warte.«

So viel zu meinem Plan.

»Ja?« Ich versuche, freundlich zu bleiben.

»Was muss oder kann ich tun? Wo werde ich schlafen? Oder ist man hier nicht müde? Schlafen wir überhaupt? Wo ist diese Anzeige oder die Tafel? Was ist das für ein Armband? Kann ich das auch woanders bekommen? Wieso heißt die Bar eigentlich Sonderbar? Und warum ward ihr versteckt, als ich ankam? Warum–«

»Stopp!«

»Was denn?«

Was denn? Hat sie das gerade allen Ernstes gefragt? Sie hat gerade unendlich viele Fragen rausgehauen und das in einem Tempo, als wäre alles ein Wort.

»Bei mir dreht sich schon alles. So geht das nicht.« Ich stütze mich ihr gegenüber am Tresen ab. »Eins nach dem anderen. Warte!«, rufe ich schnell aus, als sie direkt wieder ansetzen will. Erst einmal muss ich durchatmen. Ich fahre mir über die Stirn, die schon feucht ist. Einzelne Strähnen kleben bereits daran fest. Bisher dachte ich, dass mir immer alle eine reinknallen wollen. Ich hätte nicht gedacht, dass der Wunsch auch andersherum ernsthaft aufkommen könnte.

»Eigentlich bekommst du die wichtigsten Infos von den Oberen. Ob es aus Faulheit oder Vergesslichkeit geschehen ist oder ein höherer Sinn dahinter steckt, von dem keiner einen Plan hat, ist nun auch egal, ich habe keine Ahnung, was schieflief, aber ja, jetzt ist es nun mal so. Es ist, wie es ist. Also ...« Ich hebe meine Hand, damit sie begreift, dass ich noch nicht fertig bin und nur mal kurz verschnaufen muss. Sie bringt mich echt noch an meine Grenzen – beziehungsweise darüber hinaus.

»Also. Zuerst das Wichtige. Vielleicht hat Links-Auge recht und«, ich zucke mit den Schultern, »es gab ein Update, das könnte sein. Und nein, das erkläre ich dir jetzt nicht im Detail. Eins nach dem anderen. Alles weitere erfährst du – eigentlich mit Armband, aber vielleicht ja auch ohne – an der Anzeigetafel.«

Sie betrachtet mich mit diesen Wahnsinnsaugen. Anstatt, dass sie direkt zurück pfeffert, wartet sie; wägt sogar eventuell ab, was sie fragen soll. »Bringst du mich dahin – zur Anzeigetafel?«

»Nein.«

»Wieso denn nicht? Ich will doch nur–«

»Ich sagte nein.«

»Aber warum?«

»Wie warum? Nein heißt nein oder? Einfach nein. Ich bin hier. Jemand anderes kann das machen.«

»Bist du immer nur hier? Gehst du nie raus aus der Bar?«

»Es ist genug mit der Fragerei. Ich bin fix und fertig. Ich bin nicht für derlei Fragen-Antworten da, sondern um euch zuzuhören; um euch bei euren eigenen Fragen unter die Arme zu greifen, euch zu unterstützen. Aber das reicht jetzt.« Ich komme nicht dagegen an, dass meine Stimme sich erhebt und gleichzeitig zu beben anfängt.

»Aber vielleicht ist das wichtig für mich?!«

»Nicht mehr heute.«

»A–«

»Nichts aber«, unterbreche ich sie harsch. Aber aber – Kackgelaber. Ist es sehr freaky, dass ich hierbei an Rafiki denken muss mit seiner Matsch Banana?, frage ich mich unwillkürlich. 

SonderbarWhere stories live. Discover now