22 | Ungewisses Zeug

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»Das war kein Ja«, stellt sie fest.

Richtig, sehr schlau. Bravooo! Soll ich klatschen? Ich lasse es lieber.

»Wenn es kein Ja ist, ist es dann ein Nein

»Nein«, antworte ich ehrlich.

Nun fällt auch bei ihr der Groschen. »Also bringt mir weder ein Ja noch ein Nein hier viel«, spricht sie ihre Erkenntnis laut aus und seufzt dabei.

Jup.

»Was meintest du dann mit deiner Antwort?«, fragt sie nach.

»Manche von uns könnten nach Langem zurück ins Leben gerufen werden ...« Oder wie auch immer das am besten bezeichnet werden sollte.

»Ach echt?«

»Das kommt sehr selten vor. Und hängt ja auch von der jeweiligen Ausgangslage ab. Wenn jemand erschossen wurde und dieser Schuss sofort zum Tod geführt hat, dann natürlich nicht, aber es gibt ja durchaus andere Umstände. Also ...«

»Du meinst, in denen du hier länger verweilen könntest, aber nicht schimmernd bist?« In ihren Augen flackert nicht nur Neugierde, sondern auch Faszination mit, welche ich jedoch nicht eindeutig zuordnen kann.

»Ja, weil der Ausgang ungewiss ist. Wie mies wäre das denn, wenn du die ganze Zeit schimmernd bist, dich alle ignorieren oder dir nur so ein Mist vorspielen und du deswegen ausgegrenzt wirst?!«

Sie nickt zustimmend. »Das wäre es echt.«

»Das war zwar nicht ganz das Gleiche, aber frag mal Ein-Bein«, will ich von diesem ernsten Thema wegkommen, denn wir wissen es nicht. Außer–

»Ein-Bein?«

»Ach stimmt«, fällt mir ein. »Sie und Frosty hast du noch nicht kennengelernt. Die beiden waren die letzten Tage nicht hier.«

»Vielleicht sind sie gegangen.« Sie sagt es, als wäre es das Normalste dieser Welt, was es ja auch irgendwie ist. Aber ich habe noch gar nicht daran gedacht. War das deren letztes Puzzleteil, um zur Akzeptanz zu gelangen? Werde ich sie vielleicht nie wiedersehen? Krass. So ein Abschied wäre für mich neu.

»Was war denn mit ihr?«, fragt sie nach, doch ich bin noch in Gedanken bei Frosty und Ein-Bein. Könnten die anderen nicht bei der Tafel mal nachschauen?

»Also mit Ein-Bein meine ich«, hakt sie noch mal ein, als hätte ich sie nicht verstanden. Oder hält sie mich für blöd?

»Am Anfang war das eine Bein von ihr schimmernd«, gehe ich nun doch darauf ein. »Wir hielten uns versteckt, so wie immer, als sie ankam. Als klar wurde, dass sie ein Neuankömmling ist, habe ich sie begrüßt. Dann drehte sie sich etwas und das schimmernde Bein kam zum Vorschein. Es war skurril und faszinierend zugleich. Als hätte sich das Bein noch nicht damit abgefunden, tot zu sein. Mit der Zeit ließ es nach.«

»Das ist ja interessant.«

»Mhm.«

»Hast du sie deswegen Ein-Bein genannt?«

»Ja«, bestätige ich sie in ihrer Annahme.

Und nun ist erst mal gut mit Fragen, befinde ich und ziehe selbst die Grenze. Doch damit das auch wirklich glückt, schnappe ich mir meinen Drink, der noch immer auf mich wartend auf dem Tresen steht und gehe nach vorne in den Gästebereich. Wenigstens ich kann ja so tun, als wäre der Tresen eine Grenze, auch wenn ich mich auf die falsche Seite begebe ... Hm ...

Weit weit weg, nur zu einem Zweck.

Neben Riesen-Ohr lasse ich mich nieder. Stille. Schweigen. Ruhe. Genießen.

Presley und Cash wechseln sich ab, als würden sie sich ein Battle liefern. Obwohl die Jukebox nah bei mir steht, kann ich den Klang meiner Umwelt weit nach hinten schieben – sie ausblenden und selbst abschalten.

Irgendwo im Hintergrund kann ich vernehmen, wie sich Myst und Links-Auge unterhaltend zu Clausi an den Tisch begeben.

Gehst du überhaupt je raus aus der Bar? So viel zum Abschalten.

Aber klar doch!, antworte ich mir, Myst oder wem auch immer gedanklich dennoch. Allein, um meine Oase zu erreichen. Ich bin draußen, wenn ich auf dem Weg dorthin spaziere. Ich bin draußen, wenn ich da verweile – also ja!

Den Tag über bin ich hier in der Bar, aber den Abend in meinem Wohnbereich oder an meinem Steg. Was soll ich denn mit dem ganzen Rest des Ortes? Das reicht mir doch vollkommen.

Ich steige noch immer nicht dahinter, was Myst vorhat; mir oder sich unbedingt mit diesen Fragen beweisen will.

Töne erhaschen meine Aufmerksamkeit, dringen vor in mein Bewusstsein – sofern ich das so noch nennen darf. Ein neues Lied beginnt.

»Meinst du, dass Frosty und Ein-Bein so weit waren?«, spricht mich Riesen-Ohr an, während ich heraushören kann, welches Lied angemacht wurde. When Will I See You Again.

»Das ist zumindest ein Gedanke von Myst«, antworte ich ihm.

»Schon möglich oder nicht, Wy?«

Ich gucke zur Seite, zu ihm, doch er schaut geradeaus zur Jukebox. Hat er diesen Song eben angemacht? Bei den anderen dreien kann ich es mir nicht vorstellen, denn sie sitzen weiterhin beisammen wie zuvor.

»Wenn auch ein komischer Abschied«, fügt er noch hinzu.

»Ja«, ist alles, was ich dazu sagen kann, denn es stimmt mich noch immer traurig. Bei Azur und Marine kommt es öfter mal vor, dass sie einen Tag auslassen. Hingegen waren Frosty und Ein-Bein täglich da. Umso wahrscheinlicher ist es, dass deren Vermutung der Realität entspricht.

When will I see you again? When will we share precious moments? Will I have to wait forever?

Bei den Worten des Songs muss ich nicht nur an die beiden denken, die uns womöglich verlassen haben ... Auch Clausis Geschichte kommt mir sofort in den Sinn.

When will I see you again?

Ein Echo mischt sich dazu. Eine zweite Stimme. Riesen-Ohr ist es nicht, wenn mich meine Augen nicht auch noch im Stich lassen. Ist es ... dieselbe wie vergangenen Abend?

When will I see you again? When will our hearts beat together?

Zu der Stimme formt sich ein Bild vor meinen Augen ... Es fügt sich sehr langsam wie in Zeitlupe zu einem Ganzen zusammen. Wohl eher ein Ausschnitt von einem Bild.

When will I see you again? Sweet, sweet love of mine.

Es sind eisblaue Augen.

Sweet love und eisblaue Augen? Never! Niemals, was ist das für ein krankes Zeug?! 

SonderbarWhere stories live. Discover now