28 | Warum, warum, warum?

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Wenn Gesichter Bände sprechen würden, würde mir Mysts immer noch nichts verraten. Ihre Mimik drückt auf der einen Seite vollkommene Überraschung aus, auf der anderen Seite jedoch Wissenheit. Soll das mal einer verstehen.

Eine dicke, fette doppelte Eisschicht, gespickt mit ... Ja, was alles um Gotteswillen nur? Auf jeden Fall ist sie immens stur.

Eine unausgesprochene Hoffnung habe ich die ganze Zeit für mich bewahrt, sie doch noch in oder wenigstens nach den ersten Tagen durchschauen zu können. Doch sie ist und bleibt ein Rätsel für mich. Und diese Hoffnung verpufft inzwischen genauso wie alles andere.

»Das bedeutet, du heißt gar nicht Wy?« Ihre aufgerissenen Augen starren mich an. Die Farbe in ihnen bekommt dadurch einen noch mächtigeren Ausdruck. Gleichzeitig Eindruck. Das Eisblau zieht mich magisch an. Wieso ist das nur so?

»Nein.« Das hätte eigentlich – so dachte ich – klar sein müssen. Gerade für sie. Ich bin die Allwissende, aber ich tue immer so, als wüsste ich von nichts. Es gelingt mir nicht einmal, ihre mal piepsige, mal starke raue Stimme gedanklich nachzuäffen.

»Das habe ich nicht gedacht«, erwidert sie schon beinahe schockiert. »Und ich verstehe das auch nicht.« Und das begreife ich nicht.

»Warum auch?!«, meine ich nicht auf das Letztgesagte bezogen, was mir gerade auffällt und ich deswegen »Du heißt ja auch nicht Krause-Stirn, oder?« nachschiebe. Ich zucke mit den Schultern.

Obwohl ich eine – wohlbemerkt rhetorische – Frage gestellt habe, will ich keine Antwort und insbesondere keine daraus resultierenden neuen weiteren Fragen. Habe ich mir meinen Spitznamen doch nicht selbst gegeben ...

Wie konnte das nur so schnell wieder passieren, die Stimmung so wieder kippen? Wir wieder auf mich zu sprechen kommen? Das ist ein Unding!

Mit nur minimal verengten Augen gucke ich ihr entgegen. Ich bin müde und habe keine Lust auf noch mehr Spiel, Spaß und Abenteuer. Tatsächlich bleibt sie still; steht sogar auf und setzt sich in Bewegung. Vermutlich, um wieder hinter die Bar zu gehen. Meiner Sonderbar. In meiner grünen Schürze. An meinen Platz.

Doch ich bin zu müde, als heute noch etwas dagegen zu unternehmen. Soll sie doch. Ja, macht doch alle, was ihr wollt. Verlassen bleibe ich am Tisch sitzen. Mittendrin.

»Wy, du solltest mal ein ›H‹ zwischen die Buchstaben packen«, fängt Clausi nun an, »dann würdest du deinen Spitznamen vielleicht auch endlich verstehen.«

Verwundert drehe ich mich zu ihm um und schaue ihn über die Tische hinweg an. »Ich dachte, es wäre eine Ableitung von Wile E. Coyote«, empöre ich mich.

Er muss lachen. Na, wusste ich es doch, dass ich richtig lag und atme erleichtert aus.

»Ja, nee. Ist klar«, erwidert er jedoch und macht so eine doofe Wegwerfhandbewegung.

»Was?« Das war also doch kein Scherz?! Er meint das ernst?

»Nicht was, sondern warum«, korrigiert er mich schmunzelnd.

»Warum«, murmele ich vor mich hin, senke meinen Kopf und starre auf den Boden von meinem Glas, das vor mir steht.

Warum?
WARUM?, schreie ich innerlich und springe von der Sitzbank auf.
Warum, warum, warum? Immer und immer wiederhole ich dieses Fragewort in mir drin.
Was warum?

Nun stehe ich mitten in der Bar. Der Boden scheint mir auch keine Antwort geben zu wollen.

Warum ich hier bin? Warum ich Wy genannt werde? Warum Myst hier ist und alles durcheinanderbringt? Warum ich auf einmal eine Bindung zu Musik habe? Warum sie all ihre Fragen stellt? Warum sie hier hier ist? Warum sie meinen Platz einnimmt? Ihn mir wegnimmt? Oder warum ich das zulasse; nichts dagegen unternehme? Warum ich sie so nah herangelassen habe? Warum ich mir all diese Fragen stelle? Was warum?

Habe ich keinen Platz mehr hier? Wird oder wurde er mir nun doch wirklich genommen? Was soll das? Ich habe doch alles dafür gegeben, dass das niemals passiert.

Auf einmal prasselt alles Mögliche von allen erdenklichen Seiten auf mich ein.

Gedanken, Emotionen, Bilder, Songzeilen.

Ein durchgängiger Strom an Buchstaben und Bildfragmenten schießt von links nach rechts durch meinen Kopf, ohne das es irgendwie irgendeinen Sinn ergibt. Von diesem ganzen Wirrwarr wird mir schlecht und schwindelig.

So aufrecht es mir möglich ist, laufe ich mitsamt dem Schwindel zur Theke. Ein Rauschen auf den Ohren, doch im Hintergrund vernehme ich trotzdem Stimmen. Ob die zu mir sprechen? Ungewiss.

»Was machst du mit mir?« Ich richte meinen Finger auf sie. Auf Myst. Etwa auf Schürzen-Mitten-Höhe.

»Ich?« Sie scheint überrascht über meine direkte Nachfrage, sie geht, obwohl der Tresen zwischen uns ist, zwei Schritte zurück. Der Tresen, den ich als Grenze zwischen uns gezogen habe, was sie jedoch nicht gewahrt hat. Warum?

»Wer denn sonst?«

»Beruhige dich.«

»Wie soll ...« Hui, ein heftiger Wirbel.

»Wy?«

»Was geschieht mit mir? Was hast du gemacht?«

»Nichts«, höre ich sie sagen. »Nichts«, wiederholt sie oder es echot.

»Wer denn ...«

»Wy?«

Nicht sie ... ist es ... Die etwas ... Meine ich. Aber irgendetwas passiert mit mir ... Was ist das? Oder warum? Warum geschieht das?

Ein Kribbeln ... Dieses verdammte unheilbringende Rasen in den Fingerkuppen. Jeden einzelnen Finger bewege ich und reibe sie in meinen Handflächen. Sie sind ganz warm. Werden immer wärmer, beinahe heiß. Sie werden noch verbrennen! Was soll dieses Kribbeln, was hat es zu bedeuten? Warum ich, warum jetzt?

»Mir ...«

Mehr bekomme ich nicht raus – ich muss raus! Es gibt nur noch dieses Verlangen in mir, es steuert mich. Es lässt mich zur Tür hechten; nur dieses Grün als Ziel vor Augen erscheinen.

Zum ersten Mal seit – ich weiß gar nicht, wie lange es her ist; kann es nicht einmal einschätzen – stoße ich diesen Eingang auf und sprinte dadurch.

Und jetzt? 

SonderbarWhere stories live. Discover now