7 | Zweiter Deal

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»Bitte, Myst«, schlage ich einen versöhnlicheren Ton an, denn ankacken will ich sie auch nicht. »Es war ein anstrengender Tag. Morgen mehr. In Ordnung?« Meine Schläfen pochen. Ich habe das Gefühl, die Adern bereits an meinen Fingern deutlich zu spüren.

Ich winke Azur und Marine zum Abschied zu und gleichzeitig Clausi herbei. »Meinetwegen ... äh ... können wir ja sagen, jeden Tag eine Frage, okay?«, schlage ich einen Deal vor, wobei ich einen Finger für immer eine Frage hochhalte und es gleichzeitig bereue. Wieso schlage ich so einen Kack vor?

Myst beißt sich auf die Unterlippe. Wahrscheinlich, um sich davon abzuhalten, etwas Unüberlegtes zu sagen.

Das kenne ich nur allzu gut – von mir selbst. Doch dem bin ich entwachsen. Mittlerweile kann ich es anders händeln. Aber ein paar Jährchen werden auch zwischen ihr und mir liegen. Ich schätze mal, dass sie gerade erst volljährig wurde. Tragisch, wenn ich mal genauer überlege, wo sie nun ist. Mit meinen fortwährenden vierunddreißig Jahren durfte ich wenigstens einige Jahre mehr erleben.

Die Sekunden verstreichen, sie erwidert noch immer nichts. Inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich die Frage laut gestellt habe. Der Sturm zwischen uns hat sich gelegt. Das Eisblau ist einem ruhigeren Ton gewichen, als wäre ein Teil der Gletscher geschmolzen. Wartet sie darauf, dass noch etwas von mir kommt?

»Was kann ich für dich tun, Wy?«, reißt mich Clausi aus dem Anblick.

Stimmt, ich habe ihn herangebeten. »Claus, wenn das für dich möglich ist, kannst du bitte Myst die Anzeigetafel zeigen?«

»Natürlich«, stimmt er zu.

»Danke«, antworte ich ihm. »Und auch das Wichtigste dazu bitte erklären.«

»In Ordnung«, sagt Myst, ihre Augen sind dabei immer noch auf mich gerichtet.

Eins nach dem anderem, predige ich auch mir selbst vor, als ich den beiden hinterherschaue, wie sie durch die grüne Tür verschwinden. Morgen wissen wir mehr. Mit jedem Schritt.

Mit einem leeren Tablett begebe ich mich zum Tisch, an dem Clausi, Marine und Azur saßen und stelle die leer getrunkenen Gläser darauf.

Kein weiterer Gast kam mehr, scheint momentan keine wirklich Hochsaison zu sein. Darüber bin ich heute jedoch froh. Es war genug Action. Ein Blick zu Links-Auge und Riesen-Ohr verrät mir, dass sie sich ebenfalls gleich aufmachen werden. Auch Ein-Bein und Frosty sind – wie ich es mir dachte – nicht wieder aufgetaucht, aber womöglich brauchen sie etwas Zeit.

»Riesen-Ohr, meinst du, wir sehen Frosty und Ein-Bein morgen wieder?«

»Das fragst du mich?«

»Ja, warum nicht?«

»Na, weil du Wy bist und nicht ich«, scherzt er.

»Dennoch kannst du doch eine Vermutung haben?«

»Wir werden es wohl abwarten müssen.«

»Ab wann wurde es dir bewusst, dass wir hier die Wochentage nicht kennen?«

»Ziemlich schnell, aber das muss ja nicht bei allen so sein.«

Links-Auge betrachtet uns beide. »Ist eigentlich deswegen das Lied Saturday Night Fever kaputt und quer überklebt worden?«

Und dennoch kann sie es erkennen? »Du hast es durchschaut«, gebe ich grübelnd zu. »Aber nicht, um es zu verschleiern, sondern damit jeder zu seiner eigenen Zeit die Erkenntnisse erlangen kann. So wie heute war das aber auch nie von mir geplant.«

»Du tust immer, was du kannst, Wy«, Links-Auge schenkt mir ein Lächeln, »das wird schon.«

»Ja, mach dir mal keinen Kopf«, versucht auch Riesen-Ohr mich zu besänftigen.

»Danke euch.«

Kurz darauf verabschieden wir uns an der Tür, und als diese hinter ihnen zufällt, schließe ich sie ab. An der Tür lehne ich mich mit dem Rücken an. Nur einen kleinen Moment verschnaufen.

Bei meinem letzten Rundgang durch die Bar – bewaffnet mit Lappen und einem Tablett – sammle ich alle schmutzigen Gläser ein und bringe sie hinter die Theke, um sie zu spülen.

Geschafft. Nicht nur der Tag, auch ich. Ich bin völlig erledigt. Was für ein Tag. Schon sehr lange ist es her, dass ich den Abend herbeigesehnt habe. Sonst liebe ich den Tag, da wir eine Gemeinschaft sind.

Nun schalte ich das Licht in der Bar aus und verabschiede mich in meinen Wohnbereich, der durch eine Tür im hinteren Bereich der Theke zu erreichen ist.

Obwohl mir frische Luft sicherlich – und gerade heute – guttun würde, sträubt sich alles in mir dagegen hinauszugehen. Ihr will ich nicht begegnen. Nicht, bevor ich mehr über sie weiß. Das eine ist Arbeit, das andere die Freizeit. Und noch dazu, nachdem ich heute eine Vereinbarung abgeschlossen habe. Mal wieder und darüber hinaus unüberlegt.

Daher rödel ich zunächst herum, wasche mich, flöße irgendetwas in mich hinein ... Doch dann ... Ich sehne mich nach dem Fluss; einer ruhigen Oase dort draußen. Meiner Oase.

Was ist schon dabei, schwing dich frei!

Es sind ja nur ein paar Schritte, so weit ist es nicht entfernt. Und ich kann mich doch nicht von ihr so eingrenzen lassen. Also Wy, hopp.

Nachdem ich mir mein langärmeliges Sweatshirt wieder übergezogen habe, öffne ich die Hintertür und betrete den Kieselpfad, der mich auf den direkten Weg zu meiner Oase bringt.

Das Aroma der Natur steigt mir in meine Nase und umhüllt meine Sinne. Es lässt mich unmittelbar lebendiger wirken. Frischer. Eine neue Energie flutet mich. Nach einer kleinen Biegung sehe ich es schon vor mir. Herrlich.

Als ich an dem kleinen Steg ankomme, den ich sofort damals bei meiner Ankunft als meinen deklariert habe – aber hier habe ich auch noch nie jemand anderes gesehen –, streife ich die Schuhe von meinen Füßen und pflanze mich hin.

Die Wärme auf meinem Gesicht scheinend und die nackten Füße im Nass baumelnd, genieße ich den Moment. Definitiv die richtige Entscheidung.

Aufgetankt verlasse ich nach einer Weile meinen Wohlfühlort und begebe mich auf den Rückweg. Nicht nur die Sonne strahlt, auch ich.

Inmitten der Kurve des Pfades stocke ich. Kalt. Mit der Hand fühle ich zurück. Eisig. Doch es ist nichts zu sehen. Ich drehe mich um, auch dort ist nichts. Es kribbelt. Im Nacken. Ein Schauer läuft mir den Rücken hinab.

Eisblaue Augen. 

SonderbarWhere stories live. Discover now