15 | Sprachlos?!

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»Wy?«

Ist das Clausi?

»Was ist mit ihm?«

Träume ich? Wäre ich nicht eh schon in der Zwischenwelt ... Na ja, dann würde ich mit Sicherheit Angst bekommen, dass ich ganz bald hier lande ...

Eine merkwürdige Dunkelheit hat sich um mich gelegt. Keine, die finster, schwarz und voller Ruß oder so etwas ist. Eher ein eigenartiger Schleier, der meine Sinne meint zu betäuben.

Warum sind sie jetzt alle still? Oder bin ich nicht mehr anwesend? Nicht mehr bei ihnen?

Oder haben sie vielmehr ihre Chance gewittert und sind abgehauen? Wie dreist wäre das denn?

Oder oder oder ... Im Rätseln scheine ich immer schlechter zu werden ...

»Wy?«

Es ist Clausi! Mit seiner unsagbar süßen, rauen Stimme. Und sorgenvoll. O Gott – falls es dich gibt –, wie sehe ich dann bitte aus, wenn die sich um mich Sorgen machen?

»Mach die Augen auf.«

Mit aller Kraft, die ich mobilisieren kann, stemme ich mich gegen die unterdrückende Macht an, um Clausis Stimme zu folgen; um herauszukommen. Insbesondere weil ich befürchte, dass er mir sonst welche klebt und ich es nicht mal zu einhundert Prozent mitbekomme. Das wäre eine Verschwendung ... Ich spüre förmlich, wie ich dieses kuriose, violette, nebulöse Zeug durchdringe. Mit jeder Schwade, die ich hinter mir lasse, klärt sich mein Blick; schärfen sich meine Sinne.

»Was ist denn mit dir passiert?«, fragt er mich sofort, als ich anfange zu blinzeln und ich langsam meine Augen öffne. Clausi ist über mich gebeugt. Gar nicht schlecht für den Anfang. Aber irgendwie bin ich noch zu beduselt. 

Wo bin ich? Was hatte ich gemacht, als es losging? Neben mir liegt der Shake-Becher.

Klong. »Buchstaben-Sturm«, erinnere ich mich. Das war echt freaky Shit und zugleich ein riesen Hit. Oder auch keiner. Wie klang es denn? Wäre das eine angebrachte Frage?!

Sein verwirrter Ausdruck vermittelt mir, dass er keinen blassen Schimmer hat, wovon ich rede. Aber irgendwie ist das auch nicht verwunderlich. Ich schüttle mit dem Kopf. Die Kraft kehrt zum Glück in meinen Körper zurück. »Nicht so wichtig. Es geht wieder. Hilf lieber mal dem alten Knacker hoch.«

»Welchen meinst du?«, fragt er absichtlich nach, wobei er sich sogar umschaut. Herrliches Bild.

»Danke dir, Clausi«, sage ich zu ihm, als er mir aufhilft.

Seinem prüfenden Blick entkomme ich dadurch, dass ich meine Beine auf Standfestigkeit überprüfe, indem ich mich ein wenig hin und her wiege.

Erst dann hole ich nach, was ein pflichtbewusster Barbesitzer zu tun hat. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Meine Gäste. Sie mussten mit ansehen, wie es mir erging. Daher frage ich in die Runde: »Alles gut bei euch?«, und verschaffe mir dabei einen Überblick.

»Mach dir doch nicht immer so einen Kopf, Wy«, antwortet Links-Auge sofort, die an der Jukebox steht. Links von ihr befindet sich Riesen-Ohr, der zustimmend nickt.

»Hauptsache, dir geht es wieder gut?«, entgegnet Azur, die händchenhaltend mit Marine an deren Stammtisch sitzt. Auch Marine schaut mich zuversichtlich und hoffnungsvoll an.

»Ja, klar, alles bestens«, erwidere ich und da fällt mir auf, dass sich eine Person nicht mehr an dem gleichen Fleck befindet wie vor der Eskapade.

Krause-Stirn. Ist sie fort? Das glaube ich nicht. Erklären kann ich es nicht, aber ich habe das Gefühl, spüren zu können, dass sie noch da ist. Clausi, der nach wie vor mit mir hinter dem Tresen steht, deutet mit einem Nicken schräg hinter mich. Das veranlasst mich dazu, mich umzudrehen. Tja, und da ist sie.

Immerhin täuscht mich mein Gefühl nicht, aber klar genug ausgedrückt hatte ich mich ihr gegenüber offensichtlich auch wiederum nicht. Sie bückt sich gerade nach dem Becher vom Shaker, neben dem ich gerade erst mein Bewusstsein wieder erlangt habe. Als ich sehe, was sie tut und auch schon drumherum getan hat, erstickt sich der Wutkeim ganz von alleine. Sie beseitigt meine Schweinerei. Die ich bei dem Buchstaben-Sturm veranstaltet habe.

Auch wenn dieser vermutlich ohne sie erst gar nicht stattgefunden hätte ... Dennoch. Sprachlos – dass mir das mal passieren würde ... – starre ich sie an und bekomme dadurch nicht einmal mit, als sie vor mir steht. 

»Hast du ein Lieblingslied?« Hat sie mich das gerade gefragt? 

Die erste Emotion auf diese Frage, die mich erfasst, ist Wut. Dazu gesellen sich Unverständnis, Verzweiflung, Frust, Erschöpfung und so vieles mehr. Ich schaue hinter mich, doch Clausi hat sich bereits an seinen Tisch gesetzt. Ich gucke wieder sie an.

Der nächste Impuls, der dabei in mich hineinströmt, zeigt mir etwas anderes auf, was mich irritiert. Die Stimmlage von Myst bei dieser Frage glich nicht der von vorhin, als sie mich vernommen hatte. Sondern sind da ganz klare und deutliche Unterschiede herauszuhören.

Mitgefühl und Aufrichtigkeit.

Ich hole mir das Bild von vor ein paar Sekunden zurück ins Gedächtnis. Als sie mich nach meinem Lieblingslied fragte, zeigte sie zur Jukebox.

»Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir die Jukebox noch nie wirklich angeschaut, also kenne ich die Auswahl nicht so gut wie die zwei da«, antworte ich ehrlich und deute auf Links-Auge und Riesen-Ohr. Das mit Saturday Night Fever lasse ich mal aus.

»Wie wäre es, wenn du das nachholst und selbst ein Lied aussuchst?«

Rede ich immer noch mit der gleichen Krause-Stirn alias Myst? Die, die wie ein Biest hier ankam? Die ohne Armband, warum auch immer? Die, die auch jetzt bei der Nachfrage eine ehrliche, aufrichtige Klangfarbe in ihrer Stimme hat? Das passt für mich nicht zusammen.

Warte. Versucht sie so etwa hinter die Bar zu kommen? Genau genommen ist sie das ja schon. Dieses Ziel hat sie bereits erfolgreich erreicht. Ding-ding-ding

SonderbarWhere stories live. Discover now