18 | Gedankenwelle

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Ihre eisblauen Augen ziehen mich in den Bann. Auch wenn ich sie vorhin noch mit dem Teufel gleichgesetzt habe, hat noch immer die Faszination die Vorherrschaft inne. Ein ständiger Kampf ist es sozusagen mit ihr. Definitiv bringt sie mich durcheinander.

»Welches Leben?«, stelle ich die plumpe Gegenfrage, doch sie geht nicht darauf ein.

»Ich finde ja Clausi süß, aber der will nicht. Er hat eine Frau und so«, antworte ich daher. Aber sie entlässt mich noch immer nicht aus ihrem Blick.

»Wir wissen ja aber auch gar nicht, wohin uns unser Weg aus dem Zwischenleben führt, also ...«

Vermutlich kann sie sich denken, wie der Satz weitergehen könnte und damit würde sie sicherlich richtig liegen. Ich bin froh darum, dass sie es gut sein lässt.

»Bis morgen, Wy.«

»Bis morgen, Myst«, verabschiede ich mich mit einem mulmigen Gefühl. Angelehnt an der spaltbreit geöffneten Tür schaue ich ihr noch ein kleines Stück hinterher, wie sie auf dem Kieselpfad zum Hauptweg entlang schreitet.

Nachdem ich mich losreißen und die Tür hinter mir zuknallen konnte und der Jukebox keinen weiteren Blick gewürdigt habe, gehe ich schnurstracks durch die Bar zu meinem Wohnbereich. Erst als ich die Bar verlasse, bemerke ich, dass ich den Atem angehalten habe und lasse die angestaute Luft raus.

Und gibt es einen Ort, an dem du lieber wärst, Wy?

Warum kommt mir denn nun diese Frage auf? Lasst mich doch alle in Ruhe! Auch hier hält es mich nicht, somit marschiere ich an der inzwischen vielberühmten imaginären 3-Punkte-Linie vorbei, um zum Hinterausgang zu gelangen.

Der Pfad, die Sonne, das frische Gras, die Blumen – all das verschafft mir jedoch nicht die herbeigesehnte innere Ruhe. Ich liebe meine Bar, aber wenn ich mich nicht dort aufhalte, dann eben hier.

Seufzend lasse ich mich auf dem Rand des Stegs plumpsen.

Gibt es jemanden in deinem Leben?

Alles, was meint, an Gedanken aufzukommen, schiebe ich von mir. Jetzt nicht. Nein. Es muss auch mal Pause geben. Das ist mein Ort, meine Oase, das lass ich mir nicht kaputtmachen.

Also lässt du es erst gar nicht so nah an dich heran.

So wäre der Satz weiter gegangen ... Ich reibe mir mit den Händen über das Gesicht. Wohin uns unser Weg aus dem Zwischenleben führt, wissen wir nicht genau, also lässt du es erst gar nicht so nah an dich heran.

So kann man das jetzt aber auch nicht sagen, widerspreche ich mir selbst. Es ist meine Aufgabe, mich den anderen zu widmen, ihnen zu helfen.

Wie selbstlos.

Wie bei einer lästigen Fliege, die die ganze Zeit einem vor der Nase herumfliegt und ihren Weg nicht vorwärts findet oder meint, dich damit nerven zu müssen, scheuche ich diese nervenaufreibenden Gedanken weg.

Doch wie so oft funktioniert das nicht so einfach.

Gibt es jemanden in deinem Leben? Seit wann bist du hier?

Wann haben diese Fragen ein Ende? Das ist doch eine viel bedeutsamere Frage oder etwa nicht? Bin ich dem denn nicht absichtlich entflohen? Und dann meint Krause-Stirn anzukommen und mir alles zunichtemachen zu müssen.

Seit wann ich hier bin, lässt sich dagegen einfach beantworten. Mittlerweile wird sie sicher auch gemerkt haben, dass Zeit sehr relativ ist. Also who the fuck cares? Vielleicht ein paar Minuten? Ja, okay, nein ... Eher nicht. Aber vielleicht ein paar Jahre? Vielleicht auch ein paar mehr oder ein paar weniger? Oder nur ein paar Wochen oder Monate, so seltsam und abwegig ich das finden würde. Keine Ahnung. Wer weiß schon wirklich, wie schnell die Zeit hier läuft. Womöglich die Oberen ... Aber WTH – wahrlich toller Himmel –, die sagen einem ja auch nichts, was von wirklicher Bedeutung ist.

Mit den Händen neben mir abgestützt – wobei beide Arme enorm angespannt sind –, atme ich tief durch. Nach dem ich bis zehn gezählt habe, öffne ich meine Augen und versuche mich auf den Fluss unter mir zu fokussieren. Auf die feinen Linien, die sich abzeichnen.

Sie formen sich unentwegt neu. Erst sind es ganz kleine schmale Striche – beinahe noch Punkte –, die sich dann zu ausufernden Längen bilden, die von mir fortführen.

Der nächsten Linie, die sich formiert, schenke ich meine Gedanken, damit sie sie von mir wegspült.

Ich schaue meiner Gedankenwelle so lange nach, wie ich sie sehen kann. Bye bye. Zufriedener und leichter atme ich auf. Eine Weile bleibe ich noch im Sonnenschein, der das Wasser zum Glitzern bringt, sitzen und genieße einfach das Sein.

Es war ein schöner Tag – die paar Ausnahmen mal ausgenommen –, aber so im Ganzen gesehen.

Das Kribbeln oder diese Eingebung – das, was ich an der Jukebox empfunden habe, kehrt über das Holz des Stegs erneut in meine Finger.

Wish You Were Here. Erschrocken reiße ich meinen Kopf zum Weg.

Obwohl ich – und das ist mir selbstverständlich bewusst – von hier aus weder meine Tür noch die Jukebox sehen kann, starre ich zum Pfad, als könnte ich es doch.

Manchmal klappt so was ja, aber hier war es echt klar. Wunschgedanken.

Als ich über die ersten Angstreflexe – ins Wasser springen, weglaufen, Ohren zuhalten und vieles mehr – hinwegkomme, greife ich nach meinen Schuhen und springe auf.

Und dann renne ich los. Mit je einem Schuh in der Hand. 

SonderbarWhere stories live. Discover now