30 | Auschecken

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Noch einmal verfluche ich dieses neumoderne Kackteil gedanklich und tippe wild darauf herum. Aber nichts. Verdammt noch mal, es tut sich nichts.

Bleib ruhig. Tief einatmen, tief ausatmen. Ich warte geduldig ab und versuche nur die bravsten Gedanken zu haben. Sonne, Regen, Sonne, Schnee, Glitzer, Funken ... Oh, ah – Funkeln in den Augen ... Stopp!

Eilig gucke ich wieder zum Terminal. Kurz darauf poppt plötzlich etwas auf.

Hinweis/Achtung: Nicht alles konnte erfolgreich geladen werden. Zur Kurzübersicht/aktuellen Statusergebnisanzeige auf OK drücken. Um das Menü zu verlassen, auf den Pfeil nach links klicken.‹

Was zum verteufelten Kuckuck? Ach, gib dir einfach nen Ruck! Alles klar, auch wenn ich nicht so genau weiß, ob ich das Teil richtig verstehe, wähle ich OK aus.

Herzlichen Glückwunsch, heute darfst du die Brücke überschreiten.‹

Das ist ein Witz, oder? Das steht da nicht wirklich. Das sind haargenau die Worte, die ich gewählt hatte. Außer, dass sie mich duzen. Haben die mich etwa die ganze Zeit belauscht?

Herzlichen Glückwunsch, heute darfst du die Brücke überschreiten.

Das sind sie doch, oder etwa nicht?! Die, die ich aus Spaß Clausi gegenüber erwähnte.

Deswegen bin ich hierher gekommen? Um einen technischen Fehler angezeigt zu bekommen und diese bescheuerte – wie haben sie es genannt?! – Kurzübersicht/aktuelle Statusergebnisanzeige abzulesen? Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich lachen.

Herzlichen Glückwunsch, heute darfst du die Brücke überschreiten.

Brücke ... Es kann nur die eine gemeint sein. Wenn denn überhaupt. Wenn es ehrlich gemeint und nicht wieder ein weiterer übler Scherz ist.

»Auschecken nicht vergessen!«, erinnert mich die nächste Person.

»Danke«, entgegne ich. Schnell klicke ich auf den Kackbutton und damit ist es auch schon geschehen. Keine weitere Info, kein weiteres Bestätigen, nichts weiter. Dann hätte er es doch auch machen können ...

Mit hektischen Bewegungen wühle ich mich erneut durch die Ansammlung an Menschen. Dieses Mal jedoch in die andere Richtung. Zum Ausgang. Die Tür kommt ins Sichtfeld. Allein das lässt mich bereits freier atmen.

Zu viele Emotionen strömen in mich hinein. Unverständnis, Wut – o ja, das zuhauf – und Unverständnis ... Das hatte ich schon? Egal. Dazu werde ich – o je, das mag ich nicht mal denken – traurig. Und so viel mehr, was ich gerade gar nicht benennen kann. Oder nicht will.

Sobald ich es durch die Tür geschafft habe, laufe ich ohne nachzudenken direkt weiter. Ich visualisiere und visiere mein neues Ziel an. Alles andere versuche ich auszublenden.

Und was wäre, wenn du nicht tot wärst? Mysts Worte kommen mir in den Sinn. Schwellenreich, Port der Ruhe, Grenze zwischen allem ... Wir liegen zwischen allem ... Allem ...

Das Ausblenden klappt nicht so sonderbar gut. Sonderbar. Vielleicht ist es genau das, was ich benötige. Meine Gedanken werden angekurbelt.

Die letzten Tage werden ganz automatisch vor mir abgespult. Eigentlich müsste ich Sorge haben, dass mich der abgerückte Fokus irgendwo hinunter fällen lässt oder sonst irgendetwas. Aber seltsamerweise verspüre ich ein Gefühl, dass ich geleitet werde.

An den fünf Tagen – einschließlich heute – war es nicht ihr Ziel, mich zu verbannen. Nicht so, wie ich dachte. Das vollkommene Gegenteil hat Myst mir geschenkt. Das, wozu ich nicht in der Lage war. Sie hat an mich geglaubt.

Als mir das klar wird, bekomme ich wieder mehr von der Umwelt mit. Die Sonne scheint hell, die Strahlen blitzen zwischen den weißen Wolken hindurch, fluten mir sogar meinen Weg. Die Brücke kommt zum Vorschein. Meine Füße werden langsamer. Nachdem ich den ersten Schritt auf die Brücke setze, beuge ich mich über das Geländer und halte nach dem Steg Ausschau.

Sonderbar.

Sie haben sich alle versammelt und blicken zu mir herüber. Ich hebe meine Hand und winke ihnen zu. Sie stehen dort in einer Reihe. Beisammen. Stärken mich mit ihrer bloßen Anwesenheit.

Freudentränen steigen mir auf, doch ich bin zu cool, um sie ihnen zeigen zu wollen. Ich wende mich von ihnen ab und dem – meinem – Weg zu.

Ist das zu fassen?

Ich schließe meine Augen und atme tief durch. Die Sonne scheint mir genau ins Gesicht. So wie ich es liebe.

Die Augen wieder geöffnet, stelle ich fest, dass ich offenbar ganz automatisch und ohne es mitbekommen zu haben, vorangeschritten bin. Inzwischen habe ich die Mitte der Brücke erreicht.

Noch einmal fokussiere ich mich auf mein Inneres. Denn meinen letzten – bevor was auch immer geschehen wird – Gedanken will ich bewusst auswählen, doch es gelingt mir nicht. Nur solche Dinge wie Clausis Bauch, Peggy Sue oder die blaue Kleidung von Azur und Marine fallen mir ein.

Blau.
Myst.
Eisblaue Augen.

Ich kenne diese Augen. Nicht von Myst.

Eine Träne kullert bei der Erkenntnis an meiner linken Wange herunter.

Kurz darauf streift mich ein unbeschreiblich warmes Gefühl. Nicht das der Sonne. Es fühlt sich so an, als würde es sachte um mich herumwirbeln, sich langsam und vorsichtig um mich legen wollen. Dabei erklingt genauso zart ein Lied – von wo weiß ich nicht, das ist mir jedoch auch egal. Es ist I Can See Clearly Now und scheint mein Inneres widerzuspiegeln.

Denn ja, ich kann endlich wieder klar sehen. Die Hindernisse haben sich offenbart. Es ist ein leuchtender Tag. I think I can make it now, the pain is gone ... I can see clearly now, the rain is gone ... It's gonna be a bright, bright, sun-shiny day ...

Ich habe keine Angst. Vertrauen, das bekomme ich. In diese Situation, in diesen Weg und in mich. Und darauf, dass diese Brücke mich dorthin führt, wohin ich gehöre.

Zu dem – meinem – Mann mit den eisblauen Augen. 

SonderbarWhere stories live. Discover now