Wohin?

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James P. o. V.

In meinem Kopf begann sich alles zu drehen. Mein erster Gedanke war, dass das nicht wahr sein durfte. Das war nicht möglich. Meine Eltern konnten nicht tot sein. Ich begann ganz schrecklich zu zittern und ließ Lilys Hand los. Sowohl sie, als auch Professor McGonagall kämpften mit den Tränen, aber das nahm ich nur nebensächlich wahr. Es war doch alles scheiße, scheißegal, scheiß drauf. Wen kümmerte es? Mich! Was? Niemanden! Meine Eltern waren . . . tot? Mum und Dad? Konnten nicht tot sein. Meine Augen brannten und ich konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Schwer atmend raufte ich mein Haar und sprang auf. "Scheiße!", brüllte ich und fing an, die Stühle des Zimmers um zu schmeißen. Die Tränen liefen mir das Gesicht herunter, während ich die ganzen Unterlagen vom Tisch riss und mit der Faust gegen die Wand schlug. Keider der beiden unternahm etwas dagegen, Professor McGonagall saß mit versteinerter Miene da und rang mit sich selbst. Lily hingegen kauerte verängstigt und mit mitleidvollem Blick auf ihrem Stuhl und starrte mich an. Ich ertrug das nicht länger und stürmte aus dem Büro. Es war mir egal, ob ich die Trauernden in der Eingangshalle störte. Dumbledore konnte keinen Beschwerdebrief an meine Eltern schreiben. Weil sie nicht mehr da waren. Mum und Dad hatten mich verlassen. In mir zog sich alles zusammen und mein Gesicht wurde zu einer einzigen, vor Schmerz verzerrten Fratze. Qualvoll riss ich den Mund auf, doch kein Ton wollte heraus kommen. In diesem Moment kam ein bleicher Sirius auf mich zu. Er und die restlichen Gryffindors stürzten gerade die Treppe herunter. Ohne Worte schlossen wir einander in eine feste Umarmung. Seine bebende Hand krallte sich in meine Schulter, während mir seine Tränen in den Nacken liefen. Ich wimmerte etwas in sein Ohr und schlang meinen Arm um seinen Hals. "Scheiße", murmelte er mit erstickter Stimme. Ich erwiderte nichts, da ich meiner Trauer keinen Ausdruck hätte verleihen können. Sirius' Locken kitzelten mich, doch ich sog den vertrauten Geruch gierig ein. Wenn jemand wusste, wie ich mich fühlte, dann er. Mum und Dad waren für ihn wie Ersatzeltern gewesen. Wie oft hatte er seine Ferien bei uns verbracht. Ich löste mich keuchend und zitternd von meinem besten Freund und drohte zusammen zu brechen. "Hey!", rief Sirius alarmiert und nahm mein Gesicht in beide Hände. "James, James, hör mir zu!", er sah mir fest in die Augen. Da war etwas Unerschütterliches und Intensives in seinem Blick, dass ich aufhörte mich zu wehren. Zitternd standen wir uns gegenüber, während meine Gedanken klarer wurden. Und zum ersten Mal spürte ich richtige, stechende Trauer. Die hemmungslose Wut war verschwunden und der entsetzlichen Erkenntnis gewichen. Mum. Dad. Tot? Aus meiner Kehle kam lediglich ein Krächzen und ich hielt meine Augen auf Sirius gerichtet, der ebenfalls mit der Fassung rang. "Sie haben dich geliebt, das weißt du. Sie lieben dich noch immer. Sie sind nicht weg, okay? Nicht wirklich. Sie bleiben bei uns, du kannst sie immer finden: Hier drin!" Er führte seine stark bebende Hand von meiner Wange zu meiner Brust und drückte sie fest darauf. Wie konnte er so etwas jetzt sagen? Wie war es möglich, dass er in der Lage war, solche klaren und klugen Sätze zu formulieren? Verzweifelt klammerte ich mich an seine Aussage und nahm es als Versprechen. Hoffnungsvoll presste ich meine Hand auf seine. Dann sank ich zu Boden und fing leise an zu weinen. Ich legte meinen Kopf auf die Knie und schluchzte ohne Laute. Schließlich legten sich mehrere Hände auf meine Schulter, wollten mich hochziehen, mich zum aufstehen bewegen. Aber alles in mir sträubte sich dagegen. Der Vorhang war gefallen. Jeder hatte gesehen, dass meine coole Fassade nur gespielt war. Die Steine hatten zu bröckeln begonnen und die Mauer war zusammen gebrochen, die Vorstellung war beendet. Ich konnte nichts mehr dagegen tun, das wollte ich auch gar nicht, denn meine Eltern waren gestorben. Plötzlich spürte ich eine warme, weiche Frauenhand und irgendetwas sagte mir, dass ich sie nicht einfach abschütteln konnte. Sie wollte mich nicht zum Aufstehen bewegen wie all die anderen, sondern streichelte einfach beruhigend meinen Rücken. Sie verstand. Und schlang ihre Arme um einen ganzen Körper, ihre Wärme erreichte fast die eisige Kälte in meinem Herzen. Aber nur fast. So blieben wir auf dem Boden der Halle sitzen: Lily dicht an meinen Rücken gepresst und ich in mir zusammen gesunken. Zögerlich nahm ich ihre Hand in meine. Meine Gedanken wanderten zu Mum und Dad. Sofort kehrte der stechende Schmerz zurück und ich zuckte verschreckt zusammen. Mit geschlossenen Augen dachte ich an meine Mutter, die mir liebevoll durch das Haar fuhr und mir am Bahnhof einen Abschiedskuss geben wollte, den ich peinlich berührt wegwischte. Mummy, wie sie Sonntagmorgens in der Küche stand und singend Rührei briet, mit nur einem Schlüpfer bekleidet. Mummy, wie sie die Geschenke für mich zum Geburtstag oder zu Weihnachten oder zu Ostern oder ohne erkennbaren Grund sorgsam und bedacht einpackte. Meine Mummy . . . Ihr Lachen war sogar noch schöner als das von Lily. Gewesen. Meine Augen schienen in Tränen zu schwimmen, doch ich dachte krampfhaft an Sirius' Worte und wahrte die Fassung. Ich wollte jetzt einfach nur ihren rosigen Duft in der Nase haben und ihre Hand auf meiner Schulter spüren. Verdammt, ich wünschte mir so sehr, es wäre ihre Hand, die auf meiner Schulter lag, und nicht Lilys. Und ich wollte das Jacket meines Vaters über dem Stuhl im Esszimmer hängen sehen. Bereit, um von ihm für die Arbeit im Ministerium angezogen zu werden. Daddys Mundwinkel hatten immer bei Mummys Witzen für einen Moment gezuckt, weil er mühsam versucht hatte, nicht zu grinsen. Mum hatte es trotzdem ab und zu geschafft, ich hörte ihr kreischendes Lachen in meinen Ohren, während sie ihn provozierend in den Bauch piekste. Die Bilder zogen an mir vorbei: Daddys konzentrierte Miene, während er morgens nur in Unterhose im Bad stand und sich rasierte. Sein genervter Blick, wenn Mum oder ich ihn absichtlich dabei störten. Der Geruch von Pfannkuchen, wenn er ausnahmsweise mal für uns kochte. Pfannkuchen waren das Einzige was er konnte, und das noch nicht mal besonders gut. Ein trauriges Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, doch die heißen Tränen nahmen mir die Sicht, also hielt ich meine Augen weiter geschlossen. Bei meinen und Mums liebenvoll-spöttischen Kommentaren zu seinen Kochkünsten hatte er nur verwirrt die Stirn gerunzelt und die Mengenangaben auf dem Rezept überprüft. Abends, wenn ich hatte schlafen wollen, hatte er häufig Klavier gespielt. Mit dieser Melodie in den Ohren war ich schließlich in den Schlaf gesunken, in meinen ersten Jahren in Hogwarts hatte ich ohne Klaviermusik gar nicht einschlafen können. Mit Dad hatte ich immer reden können, wenn ich ein ernstes Gespräch suchte. Sein ruhiger Blick und das unbeholfene Schulterklopfen waren immer eine gut gemeinte, väterliche Geste gewesen. Und jetzt waren sie weg. Mummy und Daddy würden nie wieder mit mir frühstücken, singen, streicheln, lachen, kochen, spielen, sich rasieren, gut riechen . . . Das alles war vorbei.

Mit unergründlicher Miene sah ich in den blauen, wolkenlosen Himmel. Es war ein schöner Tag im Frühling, die Vögel zwitscherten und die Sonne schien. Und meine Eltern waren tot. Jetzt war es endgültig. Die Beerdigung hatte gestern in London stattgefunden, gerade war ich mit Sirius und Lily vom Bahnhof in Hogsmeade wiedergekehrt. Ich wollte jetzt alleine sein, das Begräbnis war . . . deprimierend gewesen. Was soll ich groß sagen? Eine Beerdigung halt. Viel schwarz, viele Beileidsbekundungen, viel Gerede, viele Tränen. Lily hatte die ganze Zeit neben mir gestanden und meine Hand gehalten. Sie tat mir gut, das wusste ich. Trotzdem sprachen wir seit dem Abend im Regen seltener miteinander. Das lag definitiv an mir, sie hingegen wollte dauernd mit mir über meine Gefühle reden. War sie etwa meine Psychologin? Nein. Nicht, dass sie nicht versucht hätte, mich an eine zu vermitteln. Mit Professor McGonagall hatte sie sich gleich nach meinem Zusammenbruch dafür eingesetzt, dass eine psychologische Heilerin aus dem St. Mungo für mich und die anderen Angehörigen nach Hogwarts kam. Denn nicht nur Mum und Dad waren bei dem Angriff gestorben: Viele hatten Familienmitglieder oder Freunde verloren. Deshalb fand jetzt jeden Abend eine Sitzung mit dieser Heilerin und allen Trauernden statt. Das war ja so was von bescheuert, ganz ehrlich. Gleich nach dem ersten Mal hatte ich beschlossen, mir das nie wieder an zu tun. So etwas verdienten Mum und Dad nicht, dass ich da mit wildfremden Menschen über sie sprach, wo sie doch gar nicht mehr da waren. Echte Trauer zeigt sich nur, wenn niemand hin sieht. Ich war oft alleine und trauerte still vor mich hin, doch mein Brunnen aus Tränen schien endgültig ausgetrocknet. Seit Tagen hatte ich nicht mehr geweint, das letzte Mal vor der Abreise zur Beerdigung. Mein Blick wanderte wieder zum Himmel über mir. Ich fragte mich, ob sie tatsächlich irgendwo da oben waren und über mich wachren, so wie Sirius und alle anderen es versprachen. So sehr ich es wollte, ich konnte es mir nicht vorstellen.

Aber wo waren sie dann? Wo waren Mum und Dad jetzt? Wohin waren sie gegangen? Und wohin sollte ich nun gehen? Wohin?

CollideWhere stories live. Discover now