Kapitel 13

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Heute kam Harry natürlich pünktlich. Bereits kurz nach Niall betrat er den Raum. Obwohl er sich am Freitag neben mich gesetzt hatte, rechnete ich nicht damit, dass er es auch heute tun würde. Und damit behielt ich Recht. Ohne mich eines Blickes zu würdigen ging er zu seinem üblichen Platz neben Zayn. Seufzend drehte ich mich wieder nach vorne. Es stand außer Frage, dass Harrys Verhalten nicht richtig gewesen war. Er hätte mich nicht alleine präsentieren lassen dürfen, schon gar nicht ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Allerdings hatte er seinen Fehler so schnell wie möglich wieder einigermaßen gut gemacht. Demnach hatte ich das dringende Bedürfnis mich bei ihm zu entschuldigen. Denn bei meinem Besuch in seinem Zimmer war ich alles andere als nett gewesen.  

"Alles okay?", hörte ich auf einmal Niall fragen. Ich zuckte zusammen, nickte dann jedoch schnell. "Ja, ich... ich war nur in Gedanken." - "Hast du nochmal mit Mr. Parker gesprochen?" Langsam nickte ich. "Und, was meinte er?" - "Ich soll mir keine Sorgen um meine Note machen..." Auf Nialls Gesicht erschien ein zufriedenes Lächeln. "Hab ich dir doch gleich gesagt! Die Präsentation wär nämlich super!" - "Danke", murmelte ich leise und erwiderte sein Lächeln. Was tatsächlich passiert war, erzählte ich ihm lieber nicht. Erst einmal musste ich selbst herausfinden, was hinter Harrys Verhalten steckte.

Jedes Mal wenn ich im Laufe der Stunde zu ihm sah, ging sein Blick nur stur an mir vorbei. Ohne lange zu überlegen, machte ich mich auch in dieser Mittagspause auf den Weg in sein Zimmer. Natürlich war es nicht abgeschlossen und natürlich war er mal wieder nicht da. Es war gut möglich, dass er heute irgendwo mit Zayn unterwegs war. Ich konnte nur hoffen, dass das nicht der Fall war, denn ich musste einfach mit ihm reden. Ich musste wissen, was in seinem Kopf vorging. Nach kurzer Überlegung setzte ich mich auf sein Sofa und wartete. Fünf Minuten später öffnete sich tatsächlich die Tür und Harry kam herein. Als er mich sah, verdrehte er nur die Augen und ließ sich auf sein Bett fallen. "Hast du vor hier einzuziehen?", fragte er und klar dabei alles andere als freundlich. Seufzend betrachtete ich meine Fingerspitzen. "Es tut mir leid, Harry." Mit hochgezogenen Augenbrauen richtete er sich auf. "Was?" - "Es... es tut mir leid.", wiederholte ich nach kurzem Zögern. "Ich bin nicht taub.", murmelte er, "Was tut dir leid?" Etwas verunsichert zuckte ich mit den Schultern. "Dass ich dich gestern so dumm angemacht hab, obwohl du schon bei Mr. Parker warst?!" Harry antwortete nicht. Er sah mich nur weiterhin mit hochgezogenen Augenbrauen an. Also fuhr ich fort: "Und vor allem, dass ich behauptet habe, du hättest nichts menschliches an dir." Harry schüttelte den Kopf und ließ sich wieder rücklings auf sein Bett fallen. "Stimmt doch.", flüsterte er nach einer Weile so leise, dass ich es kaum verstand. Deshalb fragte ich noch einmal nach: "Wie bitte?" Er stützte sich seufzend auf seine Ellenbogen. "Weshalb hast du versucht dich umzubringen?", fragte er dann, komplett ohne Vorwarnung. "Weshalb denkst du, du hättest nichts menschliches an dir?" - "Beantworte meine Frage." Stur schüttelte ich den Kopf. "Ich hab zuerst gefragt." - "Ich hab dich schon Freitag gefragt. Also antworte bitte. Wieso?" Ich konnte es ihm nicht sagen. Ich konnte es niemandem sagen. Ich war noch nicht bereit, darüber zu reden. "Wenn du mir sagst, wo du am Wochenende warst?" ... was er nicht tun würde. Das wiederum bedeutete, dass auch ich ihm keine Antwort schuldig war. "Warum interessiert dich das so sehr?" - "Warum interessiert dich das so sehr?", entgegnete ich und hielt eines meiner Handgelenke in die Luft. "Ich glaube kaum, dass man das vergleichen kann.", sagte er mit zusammen gekniffenen Augen. Ich zuckte mit den Schultern, ohne etwas zu erwidern. Unter keinen Umständen würde ich ihm die Wahrheit sagen.

"Ich habe mich noch gar nicht für Freitagabend bedankt.", murmelte ich schließlich. "Hör auf meiner Frage auszuweichen." - "Kannst du nicht einfach respektieren, dass ich nicht darüber reden will?", fragte ich, während ich spürte wie ich so langsam wirklich wütend wurde. Erneut richtete Harry sich komplett auf und sah mir direkt in die Augen. Es dauerte nicht lange, bis ich meinen Blick abwandte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er seine Jacke auszog. Jetzt saß er mir nur noch in T-Shirt gegenüber. Er streckte seinen linken Arm in meine Richtung. "Was siehst du?", fragte er. Etwas verwirrt betrachtete ich seinen Arm. "Tattoos?!" Harry schüttelte den Kopf. "Nein. Was siehst du wirklich?" Ich beugte mich etwas mehr nach vorne. "Ehm... eine Rose. Ein Segelboot...", ich wollte fortfahren, doch er unterbrach mich. "So mein ich das nicht. Was ist das genau?" Seine Fragen verwirrten mich immer mehr. Genauso wie sein allgemeines Verhalten mich verwirrte. Doch je länger ich seinen Arm betrachtete, desto klarer wurde mir der Hintergrund seiner Frage. "Tinte. Auf deiner Haut." Langsam nickte er. "In gewisser Weise sind es Narben. Hinter jedem dieser Bilder steckt eine Geschichte. Und glaub mir, diese Geschichten sind nicht schön." Vorsichtig griff er nach meinem Arm, schob meinen rechten Ärmeln nach oben und drehte meine Hand so um, dass der dunkelrote Strich auf meinem Handgelenk nach oben zeigte. "Mich würde interessieren, welche Geschichte hinter dieser Narbe steckt.", murmelte er und erneut bohrten seine grünen Augen sich in meine. Sein Blick fesselte mich, es war unmöglich irgendwo anders hinzusehen. Wenn das so weiterging, würde es nicht lange dauern, bis ich ihm alles erzählte.  Doch das durfte nicht passieren. "Ich... ich sollte gehen.", stammelte ich, entfernte meine Hand aus seinem Griff und stand auf. Er reagierte nicht. Erst als ich mich auf halbem Weg zur Tür befand, fragte er: "Was machst du nächstes Wochenende?" Überrascht drehte ich mich um. "Lernen vermutlich. Wieso?" - "Kannst du das auch woanders machen als hier?" Ohne zu wissen worauf er hinaus wollte, nickte ich. "Gut. Ich würde dich nämlich gerne mitnehmen." - "Wohin mitnehmen?", fragte ich irritiert. Es dauerte eine Weile, bis er antwortete. "Zu meinen Eltern."

Der Rest der Woche verging viel zu schnell und gleichzeitig viel zu langsam. Einerseits wollte ich unbedingt wissen, was mich bei Harrys Eltern erwarten würde, andererseits fürchtete ich mich auch ein bisschen. Denn es musste einen Grund dafür geben, dass er offensichtlich nie über seine Familie sprach. Es fühlte sich komplett falsch an, Beth, Niall und sogar Louis anzulügen, doch es war vermutlich besser wenn sie dachten, ich sei bei meiner Mutter. Besonders was Beth betraf. Ich mochte mir gar nicht erst vorstellen was passieren würde, sollte sie jemals die ganze Wahrheit erfahren. Dass auch Harry nicht vorhatte, am Wochenende auf dem Campus zu bleiben schien niemanden zu wundern. Und niemand schien es mit meinen Plänen in Verbindung zu setzen.

So kam es, dass ich am Freitagabend meine wichtigsten Sachen in einer Reisetasche verstaute und mich mit dieser auf den Weg zum Ausgang machte. Wie Beth mir bereits am ersten Tag erzählt hatte, waren Harrys Eltern offensichtlich alles andere als arm, weshalb es mich auch nicht wirklich wunderte, dass er ein eigenes Auto besaß. Es dauerte nur etwas zwei Minuten, bis ein schwarzer Range Rover vor mir zum Stehen kam. Die Tür auf der Fahrerseite öffnete sich und Harry stieg hinaus. "Hast du alles was du brauchst?", fragte er und griff nach meiner Tasche. Ich nickte, während er die hintere Tür öffnete und die Tasche auf der Rückbank platzierte. "Dann steig ein.", murmelte er und deutete auf den Beifahrersitz. Ich ging um den Wagen herum, öffnete die Tür und setzte mich neben ihn. "Und du bist sicher, dass du mitkommen möchtest?" Erneut nickte ich. "Absolut." Harry seufzte und startete den Motor. "In Ordnung. Aber glaub mir: dich erwartet keine Bilderbuchfamilie."

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