Kapitel 19

851 42 1
                                    

"I just want to know you, know you better now."

Lange Zeit saßen wir uns nur stumm gegenüber. Meine Hand in seiner. Irgendwann drehte er sie um, sodass meine Narbe nach oben zeigte. Vorsichtig fuhr er mit dem Daumen über die schmaler, rote Linie. "Aber wieso hast du versucht dich umzubringen?", fragte Harry schließlich. "Versteh das nicht falsch... irgendwie kann ich es schon nachvollziehen. Aber wieso hast du dir keine Hilfe geholt? Mit jemandem darüber gesprochen?" Ich zuckte mit den Schultern. "Vermutlich weil ich mich geschämt habe. Vergewaltig zu werden... das ist ganz bestimmt nichts, was man überall rum erzählen möchte." - "Natürlich nicht... aber wenigstens deine Mutter! Dein Vater hat eine Strafe verdient!" Langsam schüttelte ich den Kopf. "Ich konnte es einfach nicht. Wochenlang hab ich mich quasi in meinem Zimmer versteckt. Meine Noten in der Schule wurden immer schlechter und mir selbst ging es auch nicht gerade blendend. Mein Vater hat weiter gemacht, wie bisher. Von morgens bis abends war er weg. Ehrlich gesagt... ich glaube nicht, dass er sich an das erinnern konnte, was er mir angetan hat. Irgendwann hab ich es nicht mehr ausgehalten. Ich war zu feige um mir Hilfe zu holen. Ich habe mich einfach zu sehr geschämt. Als mein Vater mal wieder irgendwo unterwegs war, bin ich ins Bad und hab... " Ich konnte den Satz nicht beenden. Aber vermutlich war das nichtmal nötig. Wie so oft, begann ich am ganzen Körper zu zittern. Harry ließ meine Hand los und zog mich stattdessen an sich heran. In seinen Armen gelang es mir tatsächlich, mich langsam wieder zu beruhigen. 

"Was ist dann passiert? Du hast gesagt, dein Vater war nicht Zuhause... wer hat dich dann gefunden?", fragte er nach einer Weile. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und antwortete: "Meine Mutter. Sie hatte an dem Tag früher Feierabend als normalerweise. Sonst hätte ich das vermutlich nicht überlebt. Aber sie hat mich gefunden, den Krankenwagen gerufen und so mein Leben gerettet." Ich legte eine kurze Pause ein, bevor ich weiter sprach. "Weißt du, ich wollte in diesem Moment wirklich sterben. Ich wollte nicht mehr leben. Aber manchmal bereue ich es auch. Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie das für meine Mutter gewesen sein muss. Ihre eigene Tochter so zu sehen." Harry strich mir über die Wange. "Du solltest dir keine Vorwürfe machen. Aber was ist mit deinem Vater? Wo ist er jetzt?" - "Naja... als ich im Krankenhaus lag, wurden alle auf einmal aufmerksam. Die Ärzte haben meine Mutter überredet, mich zur Therapie zu schicken. Die dachten wohl, ich sei einfach irgendein hysterischer Teenager. Ich bin trotzdem dorthin gegangen. Und ich habe meiner Mutter die Wahrheit gesagt. Sie hat mir sofort geglaubt. Und meinen Vater angezeigt... allerdings nicht sonderlich erfolgreich." - "Wie meinst du das?", fragte Harry nach. "Es kam zur Gerichtsverhandlung. Das Problem war nur, es gab keine Zeugen. Aussage gegen Aussage. Meine Nachbarn wurden dann auch noch vorgeladen. Alles was die ausgesagt haben ist, dass wir ja eine so tolle Familie gewesen seien. Immer sei jemand für mich da gewesen, nie sei ich alleine zu Hause gewesen. Nachweisen konnte man meinem Vater natürlich auch nichts, dazu war es zu spät." - "Aber wieso hättest du dir sowas ausdenken sollen? Das ist doch absoluter Blödsinn." Ich seufzte. "Im Zweifel für den Angeklagten. Die Richter konnten nichts machen. Selbst wenn sie es gewollt hätten. Mein Vater wurde freigesprochen und meine Mutter durfte die Gerichtskosten übernehmen. Als hätten wir nicht bereits genug Probleme gehabt. Meinen Vater hatte sie bereits rausgeschmissen. Kurz darauf sind wir in ein etwas kleineres Haus gezogen, von dem er nichtmal die Adresse kennt. Und seit dem Tag der Gerichtsverhandlung habe ich ihn nicht mehr gesehen." Es folgte eine lange Pause. Dann murmelte Harry: "Eine Frage habe ich noch... dein Name. Was hat es damit auf sich? Hat deine... Abneigung gegen ihn auch etwas mit deinem Vater zu tun?" - "Ja. Er hat mich immer Eliza genannt. Immer. Sonst niemand. Es tut einfach weh, diesen Namen zu hören." Harry seufzte und zog mich noch etwas enger an seinen Körper. "Es tut mir so leid, Lizzy. Nicht nur das mit deinem Vater... auch wie ich mich verhalten hab. Mit deinem Namen... und allgemein. Sieht so aus, als hätten wir beide ein ziemlich beschissenes Jahr hinter uns." - "Allerdings...", bestätigte ich. "Aber weiß du was ich immer noch nicht verstehe, Harry?" - "Was?" - "Das mit dem Alkohol... du meintest neulich, dass du nichts trinkst. Aber an dem Abend damals... du weißt schon. Da hattest du getrunken." Seufzend fuhr Harry mit seiner Hand durch meine Haare. "Ja, ich weiß. Als ich dir gestern vom Unfall erzählt habe... da habe ich einen LKW erwähnt, erinnerst du dich?" Als ich nickte, fuhr Harry fort: "Der Fahrer... er war betrunken. Sonst wäre der Unfall wahrscheinlich überhaupt nicht passiert. An dem Tag habe ich mir geschworen, nie wieder einen Schluck Alkohol zu trinken. Hat eigentlich auch gut geklappt. Das mit Lucy und meinen Großeltern weißt du ja auch schon. Ein paar Wochen nach meinem... Ausriss, bin ich zurück zu unserem Haus. Ich habe mich entschuldigt, und sie haben mich wieder bei sich aufgenommen. Lucy... sie war immer noch unglücklich. Aber glücklicher als vor meiner Rückkehr, das haben meine Großeltern mir immer wieder gesagt. Trotzdem war es nicht einfach. Ich hatte das Gefühl, etwas bei meiner Schwester gut machen zu müssen. Ihre Eltern zu ersetzen. Daran bin ich gescheitert. Fast jede Nacht musste ich zuhören, wie sie sich in den Schlaf geweint hat. Am Tag dieser... Party... bin ich zum Friedhof gefahren. Um mich bei meinen Eltern zu entschuldigen. Dafür, dass ich nicht dazu in der Lage war, meiner Schwester zu helfen. Dafür, dass ich versagt hatte. Ich war einfach nur verzweifelt, wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Für wenigstens ein paar Stunden, wollte ich mich von all dem lösen. Alles vergessen. Also bin ich zu der Party, habe mehr getrunken als vermutlich jemals zuvor und den Rest der Geschichte kennst du genauso gut wie ich. Hinterher war ich einfach nur wütend. Vor allem auf mich selbst. Als ich dich dann wieder gesehen habe, bin ich irgendwie durchgedreht und hab meine Wut auf dich übertragen." 

"Macht Sinn... aber wie passt Beth in die ganze Geschichte? Vermutlich geht mich das überhaupt nichts an, aber... alles was ich mitbekomme verwirrt mich immer mehr." - "Was du mitbekommst?", fragte Harry mit überraschtem Unterton. "Naja... ich teile mir immerhin ein Zimmer mit ihr. Außerdem weiß sie nichts von deinen Eltern. Und Joana meinte, dass sie noch nie hier war. Wieso... redest du nicht mit ihr?" Obwohl ich es nicht sehen konnte, spürte ich, wie er den Kopf schüttelte. "Das... geht nicht. Ich kann einfach nicht mit ihr reden." - "Wieso bist du dann überhaupt mit ihr zusammen?", fragte ich und bereute es nur wenige Sekunden später. Die Beziehung der beiden ging mich wirklich absolut nichts an. Trotzdem antwortete Harry: "Hauptsächlich wegen meinen Eltern. Wie gesagt, ich habe sie bitter enttäuscht. Nicht nur nach ihrem Tod, auch schon vorher. Sie sind mit dem Bewusstsein gestorben, dass ich sie enttäuscht habe. Also wollte ich versuchen, sie stolz zu machen. Ich habe mich an der UCL beworben weil ich wusste, dass mein Vater das gewollt hätte. Und meine Mutter... sie wollte hauptsächlich dass ich glücklich bin. Deshalb wollte ich sie glücklich machen. Ich dachte, sie würde sich freuen, wenn ich ein Mädchen finde und eine normale Beziehung aufbaue. Ohne auch dieses Mädchen zu enttäuschen und mal wieder zu versagen." Kopfschüttelnd sah ich zu ihm hoch. "Du bist mit Beth zusammen weil du glaubt, dass es deine Eltern glücklich machen würde?" Er zuckte mit den Schultern. "Ich wollte auch mir selbst beweisen, dass ich wenigstens irgendetwas hinkriege, ohne es direkt wieder zu zerstören. Aber selbst das kriege ich ja nicht hin." - "Liebst du sie?" Harry schüttelte langsam den Kopf. "Sie ist nett. Ich mag sie." Ich hob die Augenbrauen. "Du magst sie? Das ist eine tolle Vorraussetzung für eine Liebes-Beziehung." - "Ich glaube nicht, dass ich... dass ich dazu fähig bin jemanden zu lieben.", murmelte Harry leise. "Doch.", widersprach ich ihm ohne zu zögern. "Du liebst Lucy." Er verdrehte die Augen und schüttelte erneut den Kopf. "Das ist was anderes. Sie ist meine Schwester." - "Trotzdem... jeder kann lieben." Harry antwortete nicht. Nach ein paar Minuten seufzte ich. "Wenn du sie magst, solltest du ihr die Wahrheit sagen." Seine Augen weiteten sich. "Die Wahrheit? Spinnst du? Sie würde mich umbringen. Und dich vermutlich auch." - "Ich weiß... aber du solltest ihr wenigstens sagen, dass du sie nicht liebst." Er verzog das Gesicht und sagte: "Ich habe schon manchmal überlegt, ob ich mich einfach von ihr trennen sollte. Aber jedes Mal sehe ich den Gesichtsausdruck meiner Mutter vor mir, als sie damals ins Auto gestiegen ist. Ich kann sie nicht schon wieder enttäuschen." Ich schüttelte den Kopf, löste mich aus seiner Umarmung um etwas Abstand zwischen uns zu bringen. "Jetzt hör mir mal zu. Du hast selbst gesagt, dass deine Mutter gewollt hätte, dass du glücklich bist. Also tu endlich etwas für dich. Tu das was du tun möchtest. Nicht das, was deine Eltern möglicherweise gewollt hätten. Es ist dein Leben, Harry!" Für eine Weile sah er mich nur mit leicht zusammen gekniffenen Augen an. "Ich soll also das tun was ich möchte?" Zögernd nickte ich. "Ja... solltest du." Er zuckte mit den Schultern. "Okay." Verwundert hob ich die Augenbrauen. "So einfach geht das? Kein Widerspruch?" - "Nicht direkt... aber für das was ich möchte, brauche ich deine Hilfe.", entgegnete er. "Meine Hilfe? Was... was möchtest du denn?" - "Ich möchte, dass du hier bleibst."

DARK turns to LIGHTWhere stories live. Discover now