Kapitel 15

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Minutenlang standen wir einfach nur stumm vor dem Stein, unter dem Harrys Eltern begraben lagen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Aber ganz bestimmt nicht das hier. Nach einer Weile ging Harry in die Knie, hob einen vertrockneten Blumenstrauß auf und ordnete die noch frischen Blumen neu an. Dann stand er wieder auf und warf den Blumenstrauß über eine Hecke. Was mich am meisten schockierte war das Todesdatum. Erst vor einem Jahr waren die beiden ums Leben gekommen. Wie alt mochte Lucy zu diesem Zeitpunkt gewesen sein? Drei Jahre? Und auch Harry war damals höchstens 18 gewesen. Definitiv zu jung, um seine Eltern zu verlieren. 

Etwa zehn Minuten später, fand ich endlich meine Stimme wieder. "Harry...", murmelte ich und sah ihn von der Seite an. Sein Blick war stur auf den Grabstein vor ihm gerichtet. "Was ist passiert?" Er schloss für einen kurzen Moment die Augen, dann trat er einen Schritt zurück. "Lass uns ein paar Schritte gehen.", schlug er vor und ging am Grab seiner Eltern vorbei. Ich folgte ihm, bis wir auf einer Höhe waren und langsam nebeneinander her gingen. Wieder dauerte es einige Minuten, bis er etwas sagte. "Es war letzten Winter. Also vor nicht ganz einem Jahr. Ich war gerade mit der Schule fertig, war jung und... keine Ahnung. Ein Arschloch." Schnaubend schüttelte er den Kopf. Ich schwieg und kurz darauf fuhr er fort: "Ich wollte unbedingt zum studieren nach Amerika. Abenteuer erleben, ein eigenes Leben aufbauen, das was sich vermutlich jeder in dem Alter wünscht. Meine Eltern waren von der Idee nicht sonderlich begeistert. Mein Vater wollte unbedingt, dass ich an der UCL studiere, genauso wie er selbst vor vielen Jahren. Meine Mutter wollte nur, dass ich in England bleibe. Am Anfang habe ich noch auf allen möglichen Wegen versucht, die beiden zu überreden. Aber nicht sonderlich erfolgreich. Mit der Zeit wurde ich immer wütender. Ich habe ihre Sicht der Dinge nicht verstanden, wollte einfach nur weg von Zuhause. Kurz vor Weihnachten wollten wir dann alle zu meinen Großeltern fahren, um die Feiertage mit ihnen zu verbringen. Am Tag der Abreise kamen wir aus irgendeinem Grund wieder auf das Thema Amerika zu sprechen. Ich habe ihnen alle möglichen Dinge an den Kopf geworfen. Dass sie schlechte Eltern sind, weil sie verhindern wollen, dass ich meinen Traum zur WIrklichkeit mache. Dass sie mein Leben zerstören. Meine Mutter war kurz vor einem Zusammenbruch. Aber das hat mich nicht interessiert. Mein Vater hat zurückgeschlagen, mir vorgeworfen, dass ich nicht zu schätzen wüsste, was für ein tolles Leben sie mir bieten würden. Womit er absolut Recht hatte. Das ganze hat dazu geführt, dass sie ohne mich gefahren sind. Ich bin alleine zuhause geblieben, während sie sich mit Lucy auf den Weg zu meinen Großeltern gemacht haben." Harry verstummte. Ich hatte Angst vor dem, was als nächstes kommen würde. "Zwei Stunden später habe ich dann einen Anruf bekommen. Irgendein Mensch von der Polizei, Feuerwehr, ich weiß es nicht. Sie haben die erste Nummer angerufen, die bei meinem Vater im Handy eingespeichert war. Sie haben mich gebeten zum Unfallort zu kommen. Ich habe nicht die geringste Ahnung wie ich es geschafft habe, in meinem damaligen Zustand Auto zu fahren. Aber irgendwann bin ich angekommen. Die ganze Straße war abgesperrt, überall Feuerwehr- und Krankenwagen. Ein riesiger LKW. Nur unser Auto war nirgendwo zu sehen. Der LKW hatte es einfach von der Straße geschoben und fast komplett zerquetscht. Es ist mir ein Rätsel, wie Lucy das überleben konnte. Nach Angaben der Polizisten waren meine Eltern sofort tot. Nicht dass das die ganze Sache weniger schlimm machen würde. Lucy musste die nächsten vier Wochen im Krankenhaus verbringen. Sämtliche Knochenbrüche und Frakturen. Ich habe so viel Zeit wie möglich bei ihr verbracht, die Krankenschwestern mussten mich jeden Abend aus ihrem Zimmer zerren. Aber... sie hat sonst niemanden. Und ich auch nicht. Natürlich gibt es da noch unsere Großeltern, aber aus unserer direkten Familie waren wir die einzigen noch lebenden." Die jetzt folgende Pause war eindeutig länger. Noch nie hatte ich Harry so lange und viel reden hören. Und verglichen mit dieser Geschichte, war mir sein Schweigen um einiges lieber. Meine eigenen Probleme erschienen mir auf einmal klein und unwichtig. "Was ist dann passiert?", fragte ich leise, denn ich war mir sicher, dass er noch nicht fertig mit seiner Erzählung war. "Als Lucy entlassen wurde, wollte ich sie wieder mit nach Hause nehmen. Aber das Jugendamt hat es verboten. Sie meinten, ich sei zu jung. Deren Vorschlag war, dass sie zu ihren Großeltern zog. Doch Lucy hat sich gewehrt. Nicht weil sie ihre Großeltern nicht mag, nein. Aber sie wollte in unserem Haus wohnen bleiben. Sie sagt immer, sie fühlt, dass unsere Eltern noch in diesem Haus leben. Dass sie die ganze Zeit bei uns sind und uns still beobachten. Auf uns aufpassen." Ich musste den Kloß in meinem Hals herunterschlucken und meine Zähne zusammen beißen, um nicht direkt in Tränen auszubrechen. "Also sind unsere Großeltern in das Haus meiner Eltern gezogen. Natürlich bin ich ihnen mehr als dankbar, aber... ich hab das nicht ausgehalten. Sie haben versucht, Lucy auf andere Gedanken zu bringen. Eigentlich das einzig richtige. Ich habe es nur nicht ertragen, dass sie meine Eltern fast nie erwähnt haben. Ich hatte niemanden mit dem ich darüber reden konnte. Und ich war so wütend. Wütend auf mich selbst. Die letzten gemeinsamen Monate mit meinen Eltern hatte ich zerstört. Ich bin im Streit mit ihnen auseinander gegangen. Nie wieder werde ich das Gesicht meiner Mutter vergessen, als sie ins Auto gestiegen ist. Sie war so traurig. Beide waren enttäuscht von mir und das zurecht. Das vermeintlich glückliche Familienleben mit meinen Großeltern habe ich irgendwann nicht mehr ausgehalten und bin abgehauen. Zu dem Zeitpunkt habe ich Zayn kennengelernt. Ich bin bei ihm eingezogen, habe mein Leben komplett geändert. Durch Zayn bin ich auf... die Idee mit den Tattoos gekommen." Er schob seinen linken Ärmel hoch. "Jedes dieser Tattoos hat irgendeine Bedeutung. Und sei sie noch so absurd. Teilweise sind es Erinnerungen, teilweise einfach nur Gedanken. Gefühle, Emotionen. Wie ich dir schon neulich erzählt habe... es sind Narben. Die beiden Vögel und den Schmetterling kennst du, oder?" Zum ersten Mal seid wir hier waren sprach er mich direkt an. Ich nickte.  "Sie symbolisieren in gewisser Weise die Gedanken meiner Schwester. Die Vögel stehen für meine Eltern. Auch wenn sie für uns nicht sichtbar sind, sind sie doch irgendwie im Himmel über uns. Der Schmetterling... ist Lucy selbst. Die Vögel... meine Eltern, beobachten sie und sehen zu wie sie sich entwickelt und zu einem wunderhübschen Mädchen wird. Frei von Sorgen und Kummer." Mit leerem Blick sah Harry in die Ferne. Für gute zehn Minuten standen wir schweigend nebeneinander. Ich versuchte vergeblich das zu verarbeiten, was er mir soeben erzählt hatte. Dabei war ich mir ziemlich sicher, dass er derart ausführlich noch nie mit jemandem darüber gesprochen hatte. Schon gar nicht mit Beth. Zögerlich griff ich nach seiner Hand. Zuerst reagierte er überhaupt nicht, doch nach einer Weile erwiderte er den Griff. Als er schließlich wieder sprach, war seine Stimme zittrig. "Lass uns zurück zum Wagen gehen." Er ließ meine Hand los und drehte sich um. Als er merkte, dass ich ihm nicht folgte, blieb er stehen und sah mich fragend an. "Kommst du?" - "Aber... Lucy. Deine Großeltern. UCL. Beth." Ich schaffte es nicht einmal, einen normalen Satz zu formulieren. Also reihte ich einfach nur die Dinge aneinander, die ich noch immer nicht verstand. Harry nickte und winkte mich zu sich heran. "Keine Sorge, ich erzähl die was danach passiert ist. Wir haben noch das ganze Wochenende."

DARK turns to LIGHTWhere stories live. Discover now