Kapitel 14

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Die erste halbe Stunde der Fahrt verbrachten wir schweigend. Harry blickte nur mit gerunzelter Stirn auf die Fahrbahn. Sein Gesichtsausdruck ließ mich befürchten, dass er jeden Moment anhielt und wieder umkehrte. Doch nichts dergleichen geschah. Irgendwann wurde die Stille unerträglich. "Wo wohnen deine Eltern denn eigentlich?" Erst dachte ich, er würde überhaupt nicht antworten, aber nach einer Weile sagte er: "Meine... Familie lebt in der Nähe von Dartford." Mir fiel durchaus auf, dass er 'Eltern' durch 'Familie' ersetzt hatte. "Hast du Geschwister?", fragte ich überrascht. Nicht dass das abwegig war, ich hatte nur bis jetzt nie darüber nachgedacht. "Eine Schwester.", murmelte er, ohne den Blick von der Fahrbahn abzuwenden. Es war ziemlich offensichtlich, dass er nicht wild darauf war, sich mit mir zu unterhalten, weshalb ich einfach den Mund hielt. "Hast du Hunger?", fragte Harry etwa zehn Minuten später. Stumm schüttelte ich den Kopf. Kurz darauf erschien der erste Wegweiser in Richtung Dartford am Straßenrand. Ich spürte wie ich langsam nervös wurde. Noch immer hatte ich nicht den leisesten Schimmer, weshalb Harry mich mit zu seiner Familie nahm. Bald erreichten wir die Stadtmitte von Dartford. Es war eine nette kleine Stadt und sofort versuchte ich mir vorzustellen, wie Harry hier eine glückliche Kindheit verbracht hatte. Doch es gelang mir nicht. Vor meinen Augen sah ich nur den 19jährigen, tättowierten Jungen, der kaum jemals lächelte. Der Wagen rollte durch die Stadt und bald wurden die Häuser weniger, dafür immer größer. Irgendwann begann Harry zu blinken und kurz darauf bog er in eine lange Einfahrt ein. Vor einem großen, offensichtlich alten Haus kam der Wagen schließlich zum stehen. "Wir sind da.", murmelte Harry und öffnete seine Tür. Ich stieg ebenfalls aus und ging auf seine Seite. In der Zwischenzeit hatte er bereits meine Tasche vom Rücksitz geholt. Ich wollte sie ihm abnehmen, doch er schüttelte nur den Kopf. Auch gut. Mir fiel auf, dass er selbst rein gar nichts dabei zu haben schien. "Wo sind deine Sachen?" Er deutete mit dem Kopf in Richtung Haus. "In meinem Zimmer." Achja. Meine Intelligenz schien immer mehr abzuschwächen.

Vor der Haustür blieb Harry stehen und griff in seine Jackentasche. Ein Schlüssel kam zum Vorschein und kurz darauf öffnete sich die Tür. Er ließ mir den Vortritt. Etwas unsicher betrat ich das Haus. Der Eingangsbereich war geräumig und hell erleuchtet. Harry schloss die Tür hinter sich und stellte meine Tasche auf den Boden. Bevor einer von uns etwas sagen konnte, hörte ich wie sich schnelle Schritte näherten. Was dann passierte, würde ich wohl niemals wieder vergessen.

Ein junges Mädchen, vielleicht vier bis fünf Jahre alt, betrat den Raum. Sie hatte braune, lockige Haare und ihre grünen Augen begannen zu leuchten als sie sah, wer soeben das Haus betreten hatte. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und Harry war unverkennbar. Im Laufschritt lief das Mädchen auf Harry zu, welcher sofort in die Knie ging, um mit ihr auf einer Höhe zu sein. "Harry!", rief sie und warf sich in seine Arme. Lächeln beobachtete ich die beiden. Spätestens als Harry sein Gesicht in ihren Locken vergrub wurde mir bewusst, dass mein Bild von ihm keineswegs der Wahrheit entsprach. Wie hatte ich jemals behaupten können, er hätte nichts menschliches an sich? "Harry, da bist du ja!", rief auf einmal jemand und ließ mich erschrocken aufblicken. Eine weitere Person betrat den Raum. Harry richtete sich auf, das Mädchen weiterhin in seinen Armen. Die Frau die nun vor uns stand, war definitiv nicht Harrys Mutter. Dazu war sie schlichtweg zu alt. Ihre Haare hatten bereits jegliche Farbe verloren und ihr Gesicht war von Falten gezeichnet. "Und du hast einen Gast mitgebracht.", stellte sie fest und lächelte mich herzlich an. "Guten Tag", murmelte ich unsicher. Offensichtlich hatte Harry nicht angekündigt, dass er mich mitbrachte. "Lernen wir also heute endlich deine Freundin kennen?", fragte die Frau und sah neugierig  zwischen Harry und mir hin und her. "Nein!", rief ich schnell. "Ich.. ich bin nur..." - "Wir kennen uns von der Uni.", kam Harry mir zuhilfe. Ich warf ihm ein dankbares Lächeln zu, doch ich war mir nicht sicher, ob er das wahrnahm. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, dachte er gerade angestrengt über irgendetwas nach. "Achso. Ich bin Joana, Harrys Großmutter.", stellte sie sich vor. "Lizzy.", entgegnete ich und erwiderte ihr Lächeln. "Wollt ihr was essen? Es ist zwar noch recht früh, aber - " - "Nein, danke.", unterbrach Harry sie, "wir müssen noch wieder weg." Überrascht sah ich ihn an. Mussten wir das? "In Ordnung. Ich mach dann Abendbrot wenn ihr wieder da seid." Joana lächelte mich ein weiteres Mal an, dann verschwand sie wieder. Ich sah ihr einen Moment lang hinterher, bevor das Mädchen auf Harrys Arm meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. "Ich bin Lucy.", sagte sie und warf mir ein breites Lächeln zu. Immer noch etwas unsicher ging ich einen Schritt auf die beiden zu. "Hallo Lucy." - "Du bist wirklich hübsch!" Mein Lächelnd wurde ebenfalls breiter. "Dankeschön! Du aber auch!", entgegnete ich. Mein Blick wanderte zu Harry, der mich ebenfalls ansah. In seinen Augen lag etwas prüfendes. Dann sah er wieder zu Lucy und setzte sie langsam zu Boden. "Wir sind bald wieder da. In Ordnung, Prinzessin?" Sie nickte und lief ihrer Großmutter hinterher. Prinzessin.

"Harry, wo sind deine Eltern?", fragte ich, sobald wir wieder alleine waren. Ohne mich anzusehen, öffnete er die Tür. "Zu denen fahren wir jetzt." Sofort war mein Kopf voller Fragen. Weshalb waren wir dann erst hierher gekommen? Und wieso lebte Lucy bei ihren Großeltern? Ich hatte das Gefühl, dass Harry mir keine dieser Fragen beantworten würde, weshalb ich sie gar nicht erst stellte. Wenige Minuten später saßen wir erneut im Wagen und fuhren zurück in Richtung Stadtmitte. Je länger wir fuhren, desto nervöser wurde ich. Ich erinnerte mich an das, was Harry mir vorhin erzählt hatte. Keine Bilderbuchfamilie. Doch das, was ich gerade eben erlebt hatte, hätte eins-zu-eins aus einem Bilderbuch stammen können. Was also erwartete mich bei seinen Eltern? Harry bog in eine Seitenstraße ein, welcher wir eine Zeit lang folgten. Dann bog er erneut ab. Die Gegend hier wurde immer ländlicher. Kaum ein Haus war am Straßenrand zu sehen. Auf einem nahezu leeren Parkplatz brachte Harry den Wagen zum Stehen. Neben diesem Parkplatz befand sich eine parkähnlich Anlage. Als ich sah was auf dem Schild nebem dem Eingang stand, blieb mein Herz für einen kurzen Moment stehen. Nein. Das konnte nicht sein. Es war absolut unmöglich. "Harry?", flüsterte ich, woraufhin er stehen blieb und sich zu mir umdrehte. "Was machen wir hier?" - "Komm einfach mit.", murmelte er und ging weiter. Mit langsamen Schritten folgte ich ihm.

In meinem ganzen Leben war ich erst höchstens zwei mal auf einem Friedhof gewesen. Und jedes Mal hatte ich mich mehr als unwohl gefühlt. Doch mit meinen jetzigen Gefühlen war das gar nicht erst zu vergleichen. Grabstein reihte sich an Grabstein. Vor manchen lagen Blumen, Fotos oder sogar kleine Stofftiere. Andere waren komplett verwahrlost.

Nach einer scheinbaren Ewigkeit blieb Harry stehen. Vor uns ragte ein marmorner Stein aus der Erde. Sobald ich die Namen auf dem Steine las, durchfuhr ein eiskalter Schauer meinen Körper.

Joseph Styles

1965 - 2012

Grace Styles

1971 - 2012

'Begrenzt ist das Leben, doch unerschöpflich ist die Liebe.'

DARK turns to LIGHTWhere stories live. Discover now