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Der Hogwarts-Express setzte sich langsam in Bewegung und ließ Gleis 9¾ mit all den winkenden Eltern schneller werdend hinter sich. Die Gesichter der Zurückgelassenen wiesen dieses Jahr mehr Besorgnis auf, als sie es sonst getan hatten. Alle wussten, dass es jetzt anders war. Viel hatte sich verändert. Es waren gute Dinge passiert; nicht zuletzt natürlich der Tod Voldemorts. Aber es gab auch negative Veränderungen. Niemand konnte leugnen, wie viele Verluste es gegeben hatte. Es waren zu viele Menschen gestorben. Viele hatten ihr Leben gelassen zu einem gemeinnützigen Zweck. Noch wusste niemand, ob die Schlacht von Hogwarts als guter oder schlechter Tag in die Geschichte der Zauberei eingehen würde. Sicher war sie das Ende einer dunklen Ära gewesen, doch war dieses Ende weitaus grausamer erfolgt, als man es sich gewünscht hatte. Der Tod eines geliebten Menschen war nichts, das man schnell vergaß.

Harry starrte auf die vorbeiziehende Landschaft und versuchte, seine Gedanken zu unterdrücken. Er wurde noch immer von seinem Gewissen gequält, in dem vollen Bewusstsein, Menschen ermordet zu haben, wenn auch die meisten indirekt. Er wusste, dass er schuld war, auch wenn ihn viele als Held feierten. Er wollte nicht als dieser angesehen werden. Bin ich denn der Einzige, der versteht, dass ich das nicht bin?
Viele Leute hatten versucht, Harry vom Gegenteil zu überzeugen oder ihn wenigstens gewissentlich zu beruhigen. Aber niemand hatte es geschafft.
Und jetzt war er auf dem Weg nach Hogwarts. Im Gegensatz zu all den anderen Jahren, packten ihn nicht Freude und ein Heimatgefühl, wenn er jetzt an das majestätische Schulschloss dachte. Sie wussten alle, dass Hogwarts nicht mal so aussehen würde, wie sie es in Erinnerung hatten. Hogwarts war nach der Schlacht zu großen Teilen ein Trümmerfeld gewesen. Professor McGonagall und viele andere hatten ihr Bestes getan, um die Schäden zu beheben und hatten Vieles erneuern müssen. Trotzdem war die Schule überraschenderweise pünktlich zum 1. September wieder bewohnbar.
»Harry«, murmelte Ginny, die neben ihm saß, und schaute ihn besorgt an.
Harry wusste nicht, ob es an seinen negativen Gedanken in der letzten Zeit gelegen hatte, aber er hatte sich von Ginny distanziert. Er hatte ihr das nicht gezeigt - zumindest hoffte er, dass es ihr nicht aufgefallen war -, doch es war etwas, dessen er sich bewusst war. Seine Gefühle zu Ginny hatten sich nicht weiter intensiviert, ganz im Gegenteil. Er hatte das Gefühl, seit langer Zeit mal wieder die Welt mit offenen Augen zu sehen. Ginny wirkte auf ihn jünger, naiver und beinahe öde. Ihre Persönlichkeit war viel weniger komplex, als er angenommen hatte. Harry wusste, dass, hätte Ginny Harrys Gedanken über sie gekannt, sie sofort Schluss gemacht hätte. Aber er wusste auch, dass sie ihn wirklich liebte, weshalb er es nicht übers Herz brachte, ihr all das zu sagen, was er wirklich dachte. Harry war kein Herzensbrecher.
Er, Ginny, Ron und Hermine belegten ein Abteil. Seine besten Freunde, deren Beziehung ganz offensichtlich besser lief, als seine eigene - worüber Harry sich aber ehrlich freuen konnte - saßen ihm Händchen haltend gegenüber. Ohne sie anzusehen, wusste er, dass Hermine ihn mindestens genauso besorgt wie Ginny anblickte. Er wollte das nicht. Von Hermine fühlte er sich zwar sehr verstanden, aber sie war trotzdem Hermine und konnte in ihrem intelligenten, perfektionistischen Sein nicht akzeptieren, dass Harry menschlich war und sich deswegen nicht komplett von seinem Gewissen abkapseln konnte. Sie wollte ihren besten Freund unbedingt wieder glücklich sehen.
Ron war da anders. Natürlich versuchte er mit genauso viel Herzblut Harry zu helfen, aber er versuchte es auf eine andere Weise, auf eine Weise, die Harry viel lieber war. Nachdem auch er vergeblich versucht hatte, auf Harry einzureden, hatte Ron ihm eine andere Chance gegeben, die Tatsachen zu akzeptieren und sich wieder mit sich selbst abzufinden. Er hatte Harry nachdenken lassen. Er hatte ihn als Einziger nicht dazu genötigt, über Dinge zu reden, über die er nicht reden wollte. Er hatte ihm seinen Freiraum gelassen und ihm das Gefühl gegeben, Harry könne sich Zeit lassen.
Und Ginny war am wenigsten hilfreich. Sie schien ganz und gar nicht zu akzeptieren, dass Harry nicht immer über alles mit ihr reden wollte, dass er Zeit alleine zum Nachdenken benötigte. Er fühlte sich einfach nicht verstanden von ihr.
»Du musst etwas essen.«, sagte Hermine plötzlich entschlossen. Sie wusste, dass Harry den ganzen Morgen nicht gegessen hatte. Er hatte einfach keinen Hunger gehabt.
Harry schüttelte halbherzig den Kopf. »Bitte Hermine, ich brauche wirklich nicht-«
Hermine schüttelte ihren Kopf und ihre Locken wippten. Sie stand auf und verließ das Abteil. Harry atmete erschöpft aus und Ron sah ihn verständnisvoll an. Harry lehnte seinen Kopf müde ans Fenster. Schnell fielen ihm die Augen zu.

Why? || DrarryWhere stories live. Discover now