Ausreißer auf dem Weg nach Hause

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Mitten in der Nacht in einer Stadt, die sie kaum kannte, abzuhauen, stellte sich als schwieriger heraus, als anfangs gedacht. Sie hatte sich schon ein ordentliches Stück von Ahmoses Haus entfernt, hinein in das Gewirr von verwinkelten Gassen, das ihr vorkam, wie ein Labyrinth.

Sie konnte nicht anders, als sich immer wieder in die Richtung, aus der sie gekommen war, umzudrehen. Dabei krampfte sich ihr jedes Mal das Herz zusammen, wenn sie daran dachte, dass Intef dort war, und sie hier. Wo genau auch immer hier in Theben war.

Trotzdem hielt sie kein einziges Mal an. Sie wusste nicht, wohin sie ging, aber stehen bleiben wollte sie auch nicht. Jedes Mal, wenn sie im Dunkeln in irgendeiner Seitengasse eine Gestalt erkannte – Theben war auch in der Nacht voller Leben – fing ihr Herz an, wie wild zu schlagen und sie beschleunigte ihre Schritte, um bloß niemandem zu begegnen, der ihr gefährlich werden könnte.

So setzte sie ihren Weg die ganze Zeit über fort, umdrehen, Herz ignorieren, weiterlaufen.

Wenn sie ehrlich zu sich war, hatte sie Angst. Ziemlich entsetzliche sogar. Es war stockdunkel, ihr war kalt und sie lief in einer Stadt herum, die sie einerseits kein Stück kannte, andererseits auch noch voller Krimineller und anderer dubioser Gestalten war, besonders nachts.

Aber umkehren wollte sie auch nicht. Was sie wollte, war nach Hause zu gelangen, und von diesem Ziel würde sie sich nicht abbringen lassen, nicht von Intef, Ahmose, korrupten Soldaten, altägyptischen Kriminellen oder der seltsamen Gestalt, die direkt auf sie zukam.

Erst jetzt bemerkte sie die Umrisse einer Person, die direkt auf sie zu kam. Merkwürdige Gestalt auf Zwölf Uhr!! schrie ihr Unterbewusstsein ihr zu.

Ihr Puls raste, als sie einander immer näher kamen. Fast erwartete sie, dass sich die Person auf sie stürzen und versuchen würde, sie zu töten. Anscheinend ging doch ihre Fantasie mit ihr durch, stellte sie überrascht fest, als die Person – jetzt eindeutig als Mann zu erkennen – einfach an ihr vorbei ging.

Innerlich beruhigte sie sich ein bisschen. Doch dann kam ihr eine Idee, und bevor sie wirklich darüber nachdenken konnte, was sie tat, wandte sie sich um und rief dem Mann nach: „Entschuldigen sie, wissen sie, wie ich nach Memphis komme?" Gerade als sie diese Worte ausgesprochen hatte, bemerkte sie, wie töricht sie doch war. Einfach mitten in der Nacht eine fremde Person auf der Straße ansprechen? Klasse Idee.

Der Mann blieb stehen und wandte sich zu ihr um. Sie war sich sicher, dass wenn es hell gewesen wäre, der Mann sie bestimmt angesehen hätte, als wäre sie nicht mehr ganz bei sich.

Doch zu ihrer Überraschung antwortete er ihr, und das in recht höflichem Ton: „Mit einem Schiff über den großen Fluss, wie sonst? Wenn du Glück hast, legt noch morgen früh ein Schiff ab."

Eigentlich habe ich ja schon Glück, dass Sie kein Serienkiller sind, dachte sie sich. Stattdessen fragte sie: „Aber wie genau komme ich von hier aus zum Nil?"

In Dunkeln erkannte sie gerade noch, wie der Mann in eine Richtung zeigte. „Der große Fluss liegt in dieser Himmelsrichtung." erwiderte er.

Froh darüber, endlich einen Anhaltspunkt zu haben, bedankte sie sich und machte sich eilig in die Richtung, in die der Mann gezeigt hatte, davon, darum bemüht, niemandem mehr auf ihrem Weg zu begegnen.

Mittlerweile war sie schon mehr als eine Stunde unterwegs. Wie konnte es sein, dass diese Stadt so riesig war?

Am liebsten hätte sie sich zum Verschnaufen an irgendeine Häuserwand gelehnt, aber ihr war so bitter kalt, dass sie versuchte, sich warm zu halten, indem sie ständig in Bewegung blieb, egal wie sehr ihre Füße auch schmerzten.

Wie ein verlorener Welpe drehte sie sich wieder in die Richtung um, aus der sie gekommen war, aber nach all der Strecke, die sie schon zurück gelegt hatte, konnte sie kaum mehr ausmachen, wo genau Ahmoses Haus lag. Da ihr der Gedanke die Tränen in die Augen trieb, zwang sie sich, nach vorn zu blicken und ihren Weg fortzusetzen und bald wurde sie dadurch belohnt, dass in der Nähe leise das Rauschen von Wasser zu hören war. Der Nil! Mit neuem Elan lief sie in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und wirklich, nach ein paar Gassen standen die Häuser nicht mehr so dicht beieinander und der Staub und Sand unter ihren Füßen verwandelte sich in Gras, um ihre Beine spielten auf einmal Schilf und Bambus.

Das Wasserrauschen war nun unüberhörbar geworden. Kira versuchte, alle Eindrücke, die sich ihr boten, gleichzeitig in sich aufzunehmen. Was sie sah, war einmalig.

Vor ihr erstreckte sich der Nil, an dessen Ufer sich Wasserpflanzen schmiegten und in dessen in sanften Wellen fallendem Wasser sich der tiefschwarze Nachthimmel und die unzähligen Sterne wie tausende kleine Diamanten spiegelten.

Sie hatte den Fluss am Tag ihrer Ankunft bereits bei Tageslicht erblickt, allerdings schienen ihr seine Ausmaße erst jetzt, im zarten Mondlicht klar zu werden. Wie ein lebendiger und sich bewegender Teppich, der mit Diamanten besetzt war, zog er sich durch das Land.

Fasziniert von diesem Anblick machte Kira sich daran, vorsichtig durch das Schilf zu waten. Das Wasserrauschen übertönte ihre Schritte, die Luft war reiner als in der Stadt und fühlte sich erfrischend in der Lunge an. Am Ufer angekommen, ging sie in die Hocke und schöpfe Wasser aus dem Fluss, sah zu, wie sich der Mond und die Sterne darin spiegelten, als würde sie sie direkt in der Hand halten.

Von seinem Charme mitgerissen starrte sie aufs Wasser hinaus. Der Fluss, den sie hier betrachtete, hatte nichts mit dem Nil der Gegenwart gemeinsam. Sie erinnerte sich an Bilder eines Stroms mit braunem brackigem Wasser, in dem all möglicher Unrat schwamm, aber der Nil der Vergangenheit präsentierte sich wie die Reinheit selbst.

Sie stellte sich vor, wie es wäre, hier mit Intef zu sitzen, Seite an Seite, und die Aussicht zu genießen.

In Gedanken versunken ließ Kira das Wasser durch ihre Finger gleiten und machte sich auf den Weg zurück. Es war immer noch mitten in der Nacht und sie brauchte einen Ort zum Schlafen, ehe sie sich morgen im Tageslicht um eine Mitfahrgelegenheit nach Memphis kümmern würde.

Sie hoffte inständig, dass der Mann Recht hatte, morgen ein Schiff ablegte und sie schnellstmöglich dorthin brachte. Im Geiste betrachtete sie die Landkarte Ägyptens und fragte sich, wie lange ihre Reise wohl dauern möge, denn Memphis lag um einiges weiter im Norden als Theben, diese Strecke selbst mit Verkehrsmitteln der Gegenwart zu bewältigen, würde lange brauchen.

Gerade überlegte sie, wieder zurück in die Stadt zu gehen. Aber wo sollte sie dort schlafen?

Also blieb sie, wo sie war, warf ihre Tasche neben sich und legte rücklings in das hohe Gras.

Verträumt verschränkte sie die Arme hinter dem Kopf und starrte die Sterne an, wie sie zu abertausenden am Himmelszelt funkelten, keiner von ihnen wirklich allein. Im Gegensatz zu mir, dachte sie traurig. Wenn sie ehrlich zu sich war, war sie vollkommen allein und es machte ihr mehr aus, als sie sich eingestehen wollte. Doch dann viel ihr Blick auf den Mond, wie er in seiner silbrigen Fülle unter den Sternen hervorstach, und ihr wurde klar, dass Alleinsein zwar alles andere als schön, aber nötig war, auf ihrem Weg, wieder nach Hause zu gelangen.

Sie hatte nun mal niemanden mehr, daran ließ sich nichts ändern. Jetzt hieß es, allein zu kämpfen.

Mit diesem Gedanken schloss sie die Augen, ließ sich vom Rauschen des Wassers hypnotisieren und schlief ein.

Time Traveler - Durch den heißen WüstensandWhere stories live. Discover now