Farbenlehre

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Farbenlehre

„Erkläre mir die Farbe blau."
Ich stocke kurz und starrte sie verwirrt an. Ein Lächeln war auf ihren Lippen zu sehen, welches in mir alle Alarmglocken schrillen ließen. Was das sollte, konnte ich mir beim besten Willen nicht erklären, aber ich wusste, wenn ich ihrem Wunsch nicht nachkommen würde, würde sie mir damit ewig in den Ohren hängen.
„Die Farbe blau ist..."
Ja, was war diese Farbe eigentlich? Einwenig hilflos blickte ich in ihr noch immer lächelndes Gesicht und versuchte nach Worten zu suchen. Wie beschrieb man um Himmelswillen eine Farbe? So etwas hatte ich bisher noch nie gemacht und auch nie wirklich darüber nachgedacht. Für mich war blau einfach blau und nichts anderes.
„Die Farbe blau ist..." wiederholte ich noch einmal, dieses mal in einem etwas nachdenklichen Ton. Mir schwirrten hunderte Worte im Kopf herum, aber nichts schien wirklich diese Farbe zu treffen. Wie sollte ich auch etwas nichts greifbares beschreiben. Schließlich beschreibt man doch auch nicht, wie der Wind aussieht, nicht wahr.
Dann kam mir plötzlich eine Idee.
„Die Farbe blau ist, der Schauer der dich überkommt, wenn du im Sommer das erste Mal ins kalte Wasser springst."
Das Lächeln auf ihren Lippen wurde einwenig breiter, während sie verstehend nickte. Scheinbar hatte ich endlich die richtigen Worte gefunden. Ich war endlich auf den richtigen Weg, also machte ich weiter.
„Es ist das Gefühl der Kälte, die dich überkommt, wenn du Morgens aufstehst und die Bettdecke beiseite schlägst. Und das Gefühl von Eis, dass in deinem Mund schmilzt."
Plötzlich schien es so leicht zu sein, diese Farbe zu beschreiben. Ich musste nur einfach das Gefühl der Farbe beschreiben und schon hatte ich die Farbe blau vor Augen. Es war wirklich kinderleicht, doch ich hatte einige Zeit gebraucht um das wirklich zu verstehen.
Nachdem ich ihr die Farbe Blau ausreichend erklärt hatte, verlangte sie eine Erklärung für die Farbe Grün. Danach wollte sie mehr über Rot hören. Sie verlangte alle Farben, deren Namen sie kannte und hörte all meine Worte mit einem Lächeln an. Ich fand nicht immer sofort die richtigen Worte und brauchte manchmal etwas um mich richtig auszudrücken, doch sie hörte mir voller geduld zu.
Mit der Zeit wurde ich immer besser im Beschreiben und wurde vom Elan gepackt. So gut wie ich nur konnte umschrieb ich ihr alles, was sie wissen wollte, bis ihr schließlich keine einzige Farbe mehr einfiel, von der ich ihr noch nicht berichtet hatte.
„Danke." Sagte sie schließlich, als ich schlussendlich die Farbe schwarz in meinen Worten da gelegt hatte. „Danke, dass du mich deine Welt hast sehen lassen."
Und plötzlich fiel der Groschen.
Endlich verstand ich warum sie mich hatte all diese Farben beschreiben lassen, warum sie nie aufgehört hatte zu lächeln und warum sie so voller Geduld meinen Worten gelauscht hatte. Ich hatte vollkommen vergessen, dass sie blind war.

Scherben im LichtWhere stories live. Discover now