2. Sophies Zweifel

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Danke für den tollen Text alexisloghman

„Und? In wen bist du?" Kinder stellten solche Fragen. Sie trauten sich nicht Worte wie „verliebt" auszusprechen, hatten sich ja grade erst an den Gedanken gewöhnt, dass sie das andere Geschlecht nicht mehr eklig finden mussten. - Die Mädchen zumindest. Jungs brauchten dafür ja bekanntlich noch ein Weilchen länger. Bereits in der Grundschule drehte sich gefühlt das ganze Leben der Mädchen um Jungs. Sie konnten noch nicht einmal Englisch sprechen, oder mühelos ganze Bücher lesen, aber sie glaubten bereits zu wissen, wen sie später einmal heiraten wollten. Freundschaften gingen wegen Jungs kaputt, Noten fielen herab. Man hatte seinen ersten Liebeskummer. Auch Sophie hatte diese Frage Jahre lang gehört. Und auch Sophies Antwort war Jahre lang immer ein anderer Mensch gewesen. In den einen war sie im Kindergarten verknallt. In die nächsten drei in der Grundschule. Und zu Zeiten der weiterführenden Schule war es jeden Monat jemand anderes. Aber eins hatten diese Menschen immer gemeinsam. Sie waren alle Jungs.


Sophie hatte nie in Frage gestellt, dass sie Jungs mochte. Das tat man ja schließlich so. Gab es da etwa überhaupt noch andere Optionen? Sie hatte nie auch nur einmal daran gedacht es zu hinterfragen.Bis sie eines Tages in der Stadt gewesen war. „Wie findest du dieses T-Shirt?", fragte Alice nun bereits zum fünften Mal und hielt diesmal ein gelbes Kleidungsstück hoch.„Grotten hässlich", dachte Sophie, aber sprach es natürlich nicht aus. Alice war nicht sonderlich kritikfähig und ihre Freundschaft nicht stark genug, um weitere Streits zu verkraften. Sie hatten schon zu viele gehabt. Meistens wegen Hausaufgaben oder gerne auch mal wegen Jungs, auf die Alice stand. Sophie verliebte sich zwar schnell in verschiedene Jungs, sobald sie nett zu ihr waren, aber sie traute sich nie dann auch mal auf diese zuzugehen. Alice wusste das, aber trotzdem war sie häufig der felsenfesten Überzeugung Sophie wolle auch etwas von ihrem Schwarm. Schließlich war der ja toll und Alice mochte ihn. Dann war es doch sehr abwegig, dass jemand anderes ihn nicht mögen könnte.Zwar wollte Alice sich das nicht eingestehen und würde es Sophie auch niemals sagen, aber sie fühlte sich von ihr bedroht. Sophie war hübsch. Hübscher als Alice, fand diese. Und wenn Sophie das erstmal entdecken würde, ja wenn man aufhören würde sie klein zu halten, dann könnte sie ihr jeden Kerl wegschnappen. Und das durfte nicht geschehen. Also ließ Alice gerne und häufig unterschwellige abwertende Kommentare fallen, sabotierte Sophies Selbstbewusstsein. Ja, sie wollte sie klein halten.Natürlich bemerkte Sophie das manchmal. Sie wusste, rational gesehen, dass Alice keine Freundin war, aber sie war die einzige die Sophie geblieben war.Auch wenn sie sie bei Gruppenarbeiten versetzte und sich ihr häufig in den Weg stellte, wenn es um Erfolg in Klassenarbeiten oder ähnlichem ging, immerhin hatte Sophie jemanden bei dem sie in den Pausen sitzen konnte. Und das war es ihr wert.„Wunderschön", murmelte Sophie mit dem besten Fake-Lächeln das sie aufbringen konnte. „Das hast du auch schon zu den anderen vier gesagt!"„Dir stehen sie ja auch alle super."Alice rümpfte die Nase und ging zurück in ihre Umkleide. Sophie hielt sich doch nur mal wieder für etwas besseres! Natürlich WAR dieses T-Shirt wunderschön. Und besonders ihr stand es perfekt. Anders als Sophie. Die könnte nie so etwas tragen. Dafür fehlte ihr die Figur! Ihre war nämlich ziemlich blöd.Sophie seufzte leise in sich hinein und ging zu einem der anderen Kleidungsständer. Bis Alice fertig sein sollte mit schmollen hatte sie schließlich noch etwas Zeit. Die schmollte nämlich immer ziemlich lange. Sie strich über den weichen Stoff eines Pullis. Er fühlte sich gut an. Und Sophie mochte Pullis. Denn Sophie mochte ihre Figur nicht und Pullis verdeckten sie gut. Außerdem fand sie sich selbst ziemlich süß in Pullis und sie mochte Kapuzen. Sie sah an sich herab. Objektiv gesehen war Sophie ein hübsches Mädchen. Sie hatte eine völlig normale Figur, aber das konnte sie nicht erkennen. Sie sah nur Beine, deren Oberschenkel zu dick waren. Füße zu groß, Hüften zu breit, Brüste zu – nein, die fand sie eigentlich ziemlich in Ordnung. Brüste halt. Die konnten ja nicht wirklich hässlich sein, dachte sie sich immer, wenn sie sie ansah. Nein, Sophie fand sich nicht hübsch. Sie mochte es nicht, wenn Menschen sie ansahen, stellte sich immer vor, wie die ihre Makel betrachten und sie innerlich verurteilten. Dazu hatte Alice immens beigetragen. Doch das war Sophie nicht bewusst.Sie verstand, dass Alice sie in der Schule manchmal unfair behandelte und sie wusste, dass sie um sie herum etwas vorsichtig sein musste und ihr nicht alles erzählen durfte, wenn sie nicht riskieren wollte, dass das Thema sie die nächsten Wochen in der Schule verfolgen würde, aber sie konnte nicht sehen, wie Alice sie sabotierte. Sie war der festen Überzeugung, dass Alice ihr die Wahrheit sagte, wenn sie ihr aufzählte welche Problemzonen sie hatte und doch besser mal beheben sollte. Aber wie behebt man die? Das Mädchen seufzte erneut und lenkte ihren Blick wieder zurück auf die Kleidungsstücke vor ihr. Dabei entging ihr nicht, dass zwei Gestalten durch die Reihe neben ihr liefen. „Nicht hingucken, dann gucken sie dich auch nicht an", murmelte das Mädchen sich selbst ganz leise zu. Doch es fiel ihr schwer sie nicht zu beobachten. Etwas lag an diesen Menschen, das sie faszinierte. Sie hatten eine völlig andere Körpersprache zu einander, als Sophie und Alice, auch wenn Sophie nicht bewusst war, dass das der Grund für ihr Interesse war. Ihre Augen beschlossen die beiden weiterhin aus den Augenwinkeln zu beobachten. Es waren zwei junge Frauen. Beide sehr feminin. Sie hatten lange Haare. Die eine blond, die andere rothaarig. Beide vielleicht um die 18. Die blonde war ein wenig molliger und kleiner als die Rothaarige, aber sie taten sich nicht sonderlich viel. „Oh. Mein. Gott." Die Blondine rannte in schnellen, kleinen Schritten zu einem Kleiderständer ganz in Sophies Nähe und grinste ihre Freundin an. „Diese Jacke und ich? TRAUM-PAAR", sie legte eine ausdrückliche Betonung auf das letzte Wort.Sophie konnte die andere Frau lachen hören, bevor diese auch noch die letzten Schritte ging und schließlich wieder neben der Blondine stand. Sie stand ihr ziemlich nah, fand Sophie. Aber gut, andere Mädchen aus ihrer Klasse saßen sich auch gegenseitig auf dem Schoß. Manche Freundinnen hatten so eine Nähe zu einander. Auch wenn die niemand zu ihr haben wollte... aber sie war ja auch hässlich. Wer wollte schon einen hässlichen Menschen umarmen, oder gar auf ihrem Schoß sitzen? „Traumpaar? So so." Der Ton war neckisch. Sophie beneidete die beiden. Sie hätte auch gerne eine Freundin mit der sie Witzen machen konnte. „Eine Jacke kann mich ersetzen?"Diese Worte machten Sophie etwas stutzig. Sie blätterte nun etwas langsamer zum zehnten Mal durch die Pullis.Die Blondine lachte. Sophie mochte ihr Lachen. Es war leicht und sanft. Anders als ihres. Ihres war einfach ein blöder klang. Das hatte Alice ihr auch schon gesagt.„Dich ersetzt Nichts und Niemand." Der Tonfall war so sanft und liebevoll, dass Sophie ihre Augen nun nicht mehr daran hindern konnte die beiden anzusehen.Und als sie sie ansah, traf sie der Schock.Die Blondine hatte ihre Arme um die Schultern der anderen Frau gelegt und küsste sie. Die Rothaarige erwiderte den Kuss sogar.Sophie war einfach nur geschockt. Und genau so starrte sie die beiden auch an. Die Pullis und ihr Vorhaben unsichtbar zu bleiben lange vergessen.Als das Paar sich nach wenigen Sekunden wieder von einander löste, bemerkte die kleinere Frau Sophies Blick und runzelte die Stirn. Sie wollte grade dazu ansetzen etwas zu sagen, als ihre Freundin sie leise lachend unterbrach: „Wie süß, eine baby dyke." Ihre Worte waren nur leise und offensichtlich nicht für Sophie bestimmt gewesen, doch Sophie hatte sie gehört. Sie hatte sie gehört und nun konnte sie sie nicht mehr vergessen.Und so kam es, dass sie nun eines Morgens vor ihrem Badezimmer-Spiegel stand und sich selbst einfach nur anstarrte. Ihre Hände umfassten das weiße Waschbecken, das sich direkt unter dem großen Spiegel befand und ihr Gewicht auffing. Ihre ganze Aufmerksamkeit lag auf dem Gesicht, dem sie sich gegenüber sah. Das sie studierte. In der Hoffnung irgendetwas zu finden. Sie wusste nicht was sie suchte, aber sie spürte die Verzweiflung mit der sie hoffte es endlich zu finden. Ihren Gedanken ein Ende bereiten zu können.Nachdem die Rothaarige ihren Kommentar gemurmelt hatte, war Sophie rot angelaufen, hatte sich umgedreht und das Geschäft so schnell verlassen, wie sie konnte.Was mussten die sich nur gedacht habe, als sie so gegangen war? Warum hatte sie nicht einfach etwas gesagt? 'Entschuldigung' oder so. Irgendwas.Sophie schlug sich gegen ihre Stirn. Dumm. Dumm! Sie hatte sich so dumm verhalten.So ein Abgang war doch einfach nur peinlich... Was würde Alice dazu nur sagen? ... Alice. Die hatte sie total vergessen in ihrer Aufregung. Scheiße.Der Tag morgen würde der reine Horror werden, das wusste Sophie jetzt schon. Sie hatte Alice versetzt. Man versetzte Alice nicht.Aber was sie noch mehr beschäftigt, als die Angst vorm morgigen Tag – und das musste etwas heißen, denn ihre Angst vor der Schule war so stark, es verzehrte jedes Mal ihre ganze Energie und drehte ihr den Magen um – waren die Worte der jungen Frau: baby dyke. Baby dyke. Sophie hatte keine Ahnung gehabt, was die Worte bedeuteten. Ja, sie hatte ja nicht einmal gewusst, dass es 'lesbisch' gab. Doch dann hatte sie den Begriff gegooglet und das Ergebnis hatte ihr Herz fast angehalten: Eine junge, unerfahrene Lesbe. Sie hatte weiter gegooglet. Lesbe: Eine Frau, die sich sexuell von anderen Frauen angezogen fühlt. Homosexuell. Sophie war lesbisch? War Sophie lesbisch? Mochte sie Frauen? Das Mädchen hob ihre Augen und sah erneut in den Spiegel. Sie konnte noch immer nicht finden, was sie suchte. Warum hatte die Frau das gesagt gehabt? Sah sie etwa aus wie eine Lesbe? Oh gott, wenn sie aussah wie eine Lesbe, dann mussten die Leute in der Schule das ja auch denken und wenn die das dachten, dann kämen so viel mehr Probleme auf sie zu. Bestimmt würde dann noch mehr über sie gelästert werden, weil sie denken würden, dass Sophie sie in der Umkleidekabine beobachtet hätte. Das taten Lesben doch, oder nicht? Also Sophie tat das nicht. War sie also keine Lesbe?Wer zieht sich in der Umkleide denn ohnehin überhaupt komplett um? Manche ihrer Klassenkameradinnen wechselten da sogar ihr T-Shirt! Aber das wusste Sophie nicht, weil sie sie beobachtet hatte, sondern weil das etwas war, was ihr einfach auffiel. Sie sah dann aber immer extra nicht hin!Also Sophie selbst wechselte dort ja nicht mal ihre Hose, die zog sie schon morgens an, oder zog sich auf der Toilette um, oder erst dann, wenn die meisten bereits in der Sporthalle waren. Sie hatte so hässliche, dicke Oberschenkel. Sie wollte nicht, dass die jemand sah. Alice sagte ihr auch häufig, dass ihre Oberschenkel zu dick waren, wenn sie sie mal beim Umziehen sah. Das Mädchen seufzte erneut. Sie wollte nicht, dass die anderen auch noch sowas über sie dachten. Sie hatten schon genug Themen um über sie zu lästern. Sophie wusste nicht einmal was genau sie da redeten, aber sie hatten Themen. Das wusste sie. Schließlich sah und spürte sie die Blicke.Nur leider verstand sie nicht, dass diese Blicke, diese Verachtung auf Neid grundete. Auf Neid, Eifersucht und Angst. Die anderen hatten Angst. Sie hatten Selbstzweifel und sie hatten Angst sich diese einzugestehen.Sie waren bellende Hunde. Große Klappe, Nichts dahinter. An dem Abend hatte Sophie Alice noch geschrieben, gehofft, dass sie sie mit ein paar SMS besänftigen könne, damit der morgige Tag nicht so schlimm ausfallen müsste. Doch Alice beantwortete ihre SMS nicht.Und so endete ein weiterer von Sophies Tagen mit mulmigem Gefühl, Angst vor dem nächsten Tag und Alpträumen. Auch wenn diese diesmal nicht vom Mobbing in der Schule, sondern von den neuen Begriffen handelten und davon, wie jeder sich von dem Mädchen abwenden würde, weil sie nicht normal war.Und niemand mochte unnormale Menschen, da war Sophie sich sicher.


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