4. Paragraph 175

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Danke für den tollen Text Neeks

Es war früh am morgen, als die ersten Sonnenstrahlen durch die Vorhänge und in das kleine spärlich möblierte Zimmer fiel. Müde öffnete Otto die Augen und blickte direkt auf die Uhr, die ihm gegenüber an der Wand hing. Er seufzte. Eigentlich musste er erst in einer Stunde aufstehen, also wäre noch genug Zeit sich einfach umzudrehen und weiterzuschlafen, doch er wusste, dass er nicht noch einmal einschlafen würde. Stöhnend richtete er sich auf und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Dann schlug er die Decke beiseite und schwang die Beine aus dem Bett. Langsam erhob er sich und ging mit schleppenden Schritten in Richtung des kleinen Bades, mit den Gedanken ganz woanders. Gestern Morgen noch waren er und Georg an der Front im Kampf gegen die Franzosen gewesen und nun war er hier, in der kleinen Wohnung seiner Schwester auf dem Gelände der Karlsklinik. Gestern Morgen hatten er und Georg Verwundete verarztet und jetzt sollten sie hier ihr durch den Krieg unterbrochenes Medizinstudium beenden. Otto schüttelte heftig den Kopf, um in die Gedanken an seine toten Kameraden zu vertreiben. Schnell machte er sich fertig und schlich in die kleine Kochecke, wo er sich ein Stück Brot vom Vorabend und eine Scheibe Käse nahm. Er klemmte es sich zwischen die Zähne, zog sich seine Stiefel an, schlüpfte in seinen Mantel und verließ leise die kleine Wohnung. Er war noch keine drei Meter von der Wohnungstür entfernt, als er jemanden seinen Namen rufen hören konnte. „Otto! Otto, warte!" Es war Georg, der da durch den Gang auf ihn zugeeilt kam. Als er bei ihm ankam, umfasste er Ottos Gesicht mit beiden Händen und drückte seine Lippen auf die Ottos. Seufzend erwiderte Otto den Kuss, doch dann wandte er sich ab. „Georg, wenn man uns sieht, sind wir tot." Georg verdrehte die Augen. „ Du wirst vielleicht nur verwarnt, aber ich bin Wiederholungstäter. Wenn ich erwischt werde, wie ich einen anderen Mann küsse, werden sie mich zusammen mit Juden, Behinderten und anderen Schwulen vergasen. Georg, ich will nicht sterben. Noch nicht." Doch anstatt zu antworten, zog Georg Otto am Arm mit sich, bis sie schließlich zwei Stockwerke unter den Wohnungen der Ärzte und Schwestern im Vorratsraum zwischen Mullbinden und Pinzetten standen. „ Otto, hör mir zu. Es tut mir leid, was ich vorhin getan habe. Irgendwann werden sie Artikel 175 aufheben und wir werden wie jedes andere Paar auch leben können. Es wird nicht mehr lange dauern. Die Amerikaner sind fast hier und auch die Engländer sind nicht mehr weit entfernt. Die Russen sind kurz vor der Charite. Bald wird dieser sinnlose Krieg vorbei sein. Ich habe gehört, es werden weitere Anschläge auf den Führer vorbereitet. Wenn er tot ist sind wir frei." – „ Ich weiß, dass es bald vorbei ist. Ich habe einfach Angst davor, dass uns etwas passiert. Dass sie uns nach Auschwitz, Buchenwald, Dachau oder sonst wo hin bringen. Ich habe Angst um dich, Georg, weil ich dich liebe." Sanft strich Otto Georg eine Haarsträhne aus der Stirn. „ Ich liebe dich auch, Otto." Sie kamen sich Näher und dann, als ihre Lippen nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt waren, schepperte es vor der Tür. Georg hastete zur Tür und öffnete sie, nur um Schwester Edith, eine junge, vom Krieg begeisterte Frau, vor sich auf dem Boden liegen zu sehen. Neben ihr lag ein Eimer. „ Was machen sie zu solch früher Stunde hier, Schwester?" Doch Schwester Edith antwortete nicht. Stattdessen stand sie auf, strich ihre Kleider glatt und drehte sich auf dem Absatz um. Als sie um die Ecke bog kam Otto aus den Schatten des Vorratsraumes hervor. „ Verdammt." – „ Mach dir keine Sorgen, Otto, sie hat dich nicht gesehen." – „ Sie hat mich vielleicht nicht gesehen, aber sie hat mich gehört. Sie hat vor der Tür gelauscht. Georg, ich bin ein toter Mann. Sie wird es melden, so wie es Vorschrift ist. Sie werden mich holen kommen. Ich kann mich nicht verstecken. Nicht vor dem Gesetz. Georg, egal was mit mir passiert, versprich mir, dass du glücklich wirst. Versprich mir das." Tränen liefen über Georgs Wangen und auch Ottos Augen glänzten verdächtig. „ Otto, ich... ich kann nicht... du... du wirst nicht... nicht bei mir sein..." – „ Ich werde bei dir sein, ob du mich siehst oder nicht. Versprich mir nur, dass du glücklich sein wirst." Georg nickte schwach und Otto trat an ihn heran, nahm ihn in den Arm und küsste ihn ein letztes Mal. Beide wussten, dass sie sich nie wieder sehen würden. Sanft beendete Otto den Kuss und wandte sich zum Gehen. Es vergingen einige Sekunden, bis Georg sich aufrappelte und beherzt einen Fuß vor den anderen setzte, bis er schließlich mit Otto auf einer Höhe war. Sie sahen einander nicht an, doch als Georg nach Ottos Hand griff, verschwanden die Ängste aus Ottos Kopf. „ Egal wo du auch hin gehst, ich komme mit dir.", flüsterte Georg und drückte Ottos Hand. „Georg, du...", begann Otto, doch Georg unterbrach ihn. „ ich will nicht ohne dich sein. Wenn du fortgehst, gehe ich mit. Wenn du stirbst, sterbe ich auch. Es hat keinen Sinn mir zu widersprechen und das weißt du auch. Also lass uns unsere gemeinsame Zeit genießen." Schweigen. Am liebsten wollte Otto sich einfach auf dem Boden zusammenrollen und weinen, doch er musste stark sein. Er würde den Beamten nicht die Genugtuung verschaffen und schwach sein. Er musste stark bleiben. Für sich selbst und für Georg. Schweigend liefen sie die letzte Treppe hinunter. Georg drückte Ottos Hand ein letztes Mal, dann ließ er sie los. Ein leises Seufzen drang an Ottos Ohren und keinen Moment später öffnete er die Tür des Haupteinganges der Karlsklinik. Vor dem Gebäude war eine Menge los. Mehrere Polizeiwagen standen zu beiden Straßenseiten und ein Haufen von Beamten stand direkt vor ihnen, bewaffnet mit Schlagstöcken und Pistolen. Otto sah zu Georg hinüber und dieser erwiderte seinen Blick mit derselben Furcht. Keiner sagte auch nur ein Wort. Ohne Vorwarnung wurden Otto die Arme auf dem Rücken verschränkt, doch er hielt weiterhin Blickkontakt zu Georg. Eine einzelne Träne löste sich aus seinem Augenwinkel und lief seine Wange hinab. Das letzte, was er mitbekam, war, dass Georg ein brauner Sack über den Kopf gezogen wurde, bevor auch um ihn herum alles schwarz wurde.

Wo war er? Wo war Georg? Ging es ihm gut? Hektisch setzte er sich auf und versuchte, in einer halbwegs sitzenden Position zu verweilen, doch gelang es ihm nicht. Der Boden unter ihm bebte. Eine Hand griff nach seinem Kopf. Panisch schüttelte er sich hin und her, doch es half nicht. „ Halt still, verdammt noch mal. Ich will dir helfen." Otto kannte die Stimme nicht, aber sie klang nicht so, als wolle ihr Besitzer ihm was zuleide tun. Otto hörte auf zu zappeln und keine fünf Sekunden später konnte er wieder sehen, auch wenn es nicht viel zu sehen gab. Um ihn herum standen viele Leute, alle mit den gleichen, ausdruckslosen Gesichtern, und schauten auf ihn hinab. Irgendwo schrie ein kleines Kind. „ Wo bin ich?" – „ Du bist im Zug. Wir fahren in ein Arbeitslager.", antwortete sein Helfer. „ Wo ist Georg? Ist er auch hier?" Er wünschte sich nichts mehr, als dass Georg neben ihm säße und zugleich verabscheute er sich für diesen Gedanken. „ Ich bin hier, Otto." Ein kalter Schauer lief Otto den Rücken hinunter. „ Was macht ihr zwei hier? Ihr seht aus wie deutsche Soldaten, aber die Deutschen schicken ihre Soldaten wohl kaum in ein Arbeitslager. Habt ihr was ausgefressen?" – „ Wir sind schwul. Es ist gesetzlich verboten, aber was können wir dagegen machen? Wir sind einfach so. Es ist für uns nicht anders als für euch, wenn ihr euch verliebt. Man fühlt dasselbe, nur für eine andere Person. Deshalb sind wir hier. Weil wir ein so dummes Gesetz gebrochen haben." Nach Georgs Rede war es lange Zeit still. Nur das Rattern des Zuges war zu hören. Irgendwann wurde der Zug langsamer, bis er schließlich zum Stillstand kam. Die Türen wurden aufgerissen und raue Stimmen schrien in der Dunkelheit der Nacht. Kaum dass alle aus dem Zug gestiegen und sich in Zweierreihen aufgestellt hatten, begann der Marsch. In der Ferne hörte Otto das rauschende Wasser eines Flusses und ein Uhu rief in die Dunkelheit. Ein großes, schmiedeeisernes Tor tauchte vor ihnen auf und kaum dass sie durch es hindurchgegangen waren, wurde es auch schon wieder geschlossen. In gleichmäßigem Tempo marschierten sie über den Platz. Kein Mensch war zu sehen. Sie gingen bis zu einem großen Gebäude, vor welchem sie stehen blieben. Georg schaute zu Otto. Otto lächelte. Es war kein fröhliches Lächeln, eher eines, mit welchem Eltern versuchten ihre Kinder zu beruhigen, während sie selbst Schmerzen spürten. Die Tür des Gebäudes wurde aufgeschoben und sie traten ein. „ Zieht euch alle komplett aus. Sofort." Bewegung kam in die Gruppe, als sie begannen aus ihren Kleidern zu schlüpfen. Otto und Georg taten es ihnen gleich. Als alle ausgezogen waren, wurde eine weitere Türe geöffnet. „ Rein da. Sofort." Gehorsam folgten alle dem Befehl. Alle, bis auf einen. Otto hatte sich nicht gerührt. Zu groß war die Angst vor dem Ende. Erst jetzt wurde es ihm wirklich bewusst. Seine Schwester würde ihm nie verzeihen. Er würde sich nie verzeihen. Scharfer Schmerz riss ihn zurück in die Gegenwart. „ Beweg dich, Jude." – „ ich bin kein Jude." Der Soldat lachte nur und holte erneut mit aus, um ihn mit dem Gewehrkolben zu schlagen. Hastig wich Otto einige Schritte zurück. Bis er neben Georg stand. Georg sah ihn an. „ Bald ist es vorbei." Otto nickte nur. Die Tür wurde verriegelt und als die Lichter flackerten, griff Otto nach Georgs Hand. Ein kurzes, knackendes Geräusch und etwas begann, den Raum zu füllen. „ Ich liebe dich, Georg." Georgs Mundwinkel zuckten kurz. „ Ich dich auch, Otto." Sie kamen sich näher, bis ihre Lippen sich berührten. Otto spürte, wie sein Körper anfing, sich seiner Kontrolle zu entziehen. Er zuckte. Er bekam keine Luft mehr. Das letzte, was er noch mitbekam, bevor alles endgültig Schwarz wurde, war, dass er und Georg Arm an Arm, nebeneinander, auf den Fliesen lagen, die Hände noch immer verschränkt.


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