22. Text von @Surfergirl1105

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(Alles, was ich hier beschreibe, ist wirklich passiert. Die Namen sind geändert.)

Mit einem schwungvollen Schritt verlasse ich den Bus. Lydia ist direkt hinter mir. Schnell blicke ich auf die Uhr.
15:31.
Dann schaue ich zum Gleis und sehe, wie unsere Bahn in Richtung des einzigen Shoppingcenters weit und breit gerade abfährt.

"Die nächste Bahn fährt erst um 15:51, wir haben noch Zeit", stelle ich seufzend fest und hake mich bei meiner besten Freundin unter.
"Verdammter Mist, dann müssen wir wohl 20 Minuten warten", antwortet diese, doch lässt sich ihr Lächeln nicht nehmen.

Es sind Ferien, wir wollen zusammen ausgiebig Shoppen gehen und das nächste Shoppingcenter ist nur eine Station mit der S-Bahn entfernt. Das ist doch definitiv ein Grund zum Lächeln.

Die kleine Bahnstation unseres Heimatdorfes besitzt lediglich zwei Gleise und den mit Abstand besten und gleichzeitig rammeligsten Dönerladen überhaupt.
Berlin S Döner.
Und das, obwohl wir von Berlin meilenweit entfernt sind und ich noch nie verstanden habe, welche spezifische Rolle der Buchstabe 'S' in dem Namen überhaupt spielt.

Daneben befindet sich noch ein kleiner Kiosk mit einer beträchtlichen Anzahl an Winkekatzen und schiefhängenden, wild blinkenden Schildern im Schaufenster, die einem unmissverständlich klar machen, dass der Laden geöffnet hat.
Lydia und ich kaufen eine Laugenbrezel und einen extra großen KitKat.

Langsam gehen wir die Treppe hinunter, unterhalten uns dabei über das Übliche. Jungs, nochmal Jungs, komische Lehrer und Schule. Damals wäre es mir im Traum nicht eingefallen, mit meiner besten Freundin über die Attraktivität eines Mädchens zu schwärmen. Damals mit 12 waren all diese Beziehungen, die nicht aus Mann und Frau bestanden, für mich generell noch total fremd und surreal. Doch das sollte sich an diesem Tag ändern.

Wir sind nun in der Unterführung angekommen, die mit extrem geschmacklosen orangen und grünen Fliesen gepflastert ist. Ihr Farbton kommt dem von Erbrochenem überraschend nah.
Zwei Fahrkartenautomaten gibt es hier. Einer wird gerade von zwei Jungs besetzt, nennen wir sie für den weiteren Verlauf der Erzählung einfach mal James und...
Günter.

Lydia und ich gehen nun an den anderen Automaten.

Ich starre die beiden Jungs an. Sie sind vermutlich um die 16 und obwohl ich zu diesem Zeitpunkt erst zwölf bin, gefällt mir einer der beiden, James, äußert gut.

Seine Augen leuchten und strahlen in einem auf eine beruhigende Art warmen Blau, seine Bewegungen sind flüssig und leicht und seine Stimme hat eine beruhigende Tiefe, während er sich mit Günter unterhält und ein funkelndes Sternenlachen lacht.

"Mia?"
Meine beste Freundin rüttelt an meinem Arm und reißt mich so aus meinen Gedanken.
"Hast du noch zehn Cent? Der dumme Automat nimmt meine Münze irgendwie nicht an..."
Ratlos hält sie mir ein schmuddeliges 10-Cent-Stück hin.
"Ähm, klar..."
Ich reiche ihr ein Exemplar, welches deutlich mehr glänzt als ihres.
Endlich funktioniert es und sie kann ihre Karte entnehmen.

Ich bin an der Reihe und muss deutlich weniger mit dem Automaten kämpfen, der meine 1,20€ für die Kinder-Einzelkarte Richtung der nächsten Großstadt geradezu gierig verschluckt.

Obwohl diese nur einige Kilometer entfernt ist, habe ich das Gefühl, dass ich in einer anderen Welt lebe. Hier ist nichts zu spüren von der summenden Großstadt und den wuseligen Menschenmassen. Hier winken sich die Senioren, die über die Hälfte der Bürger ausmachen, jeden Morgen vergnügt mit dem Krückstock zu, während jeder den krähenden Hahn irgendwo in der Nachbarschaft am liebsten finden und erschlagen würde. Schließlich hat er nach Jahren immer noch nicht verstanden, wann genau er eigentlich krähen sollte.

Währenddessen sind die beiden Jungs schon die Treppen hoch auf das Gleis gegangen. Mich würde brennend interessieren, wo sie hinwollen.

Ich entnehme schließlich meine Karte und folge meiner Freundin auf das Gleis, wo wir unser soeben gekauftes Proviant essen.

Dabei kann ich nicht aufhören, James und seinen Kumpel Günter zu beobachten, denn sie stehen nicht weit entfernt von uns auf der anderen Seite des Gleises. Sie würden also die Bahn in die entgegengesetzte Richtung nehmen. Viel mehr Auswahl gab es ja auch nicht. In diese Richtung fuhr die Bahn nur noch zwei Stationen, bevor sie tatsächlich irgendwo im Nirgendwo endete.

Der Blick von Günter trifft mich plötzlich hart wie eine Bowlingkugel aus unserem versifften, städtischen Sportpark.

Er sieht mich mit einem Blick an, den ich überhaupt nicht deuten kann und ich glotze wahrscheinlich nicht gerade höflich zurück.

Ich bin erleichtert, als er sich wieder zu James dreht und beobachte diesen nun auch weiter, während Lydia über die hundertprozentig gerechte Aufteilung unseres Maxi-Kitkats philosophiert.

Wie in Zeitlupe sehe ich plötzlich, dass Günters Hand in James' Nacken landet, in meinem Nacken, in dem Nacken, den ich wahnsinnig gerne berührt hätte.

Und dann landen seine Lippen ganz langsam auf James' Lippen, auf meinen Lippen, auf den Lippen, die ich wahnsinnig gerne geküsst hätte.
Und sie küssen sich.
Ich meine so richtig.

Mir kommt es fast so vor, als hätte Günter mir kurz davor einen fiesen, hinterlistigen, überlegenen, schadenfrohen Blick zugeworfen.
Doch das kann eventuell auch pure Einbildung gewesen sein.

Kurz darauf kapiere ich erst, was dort passiert. Dann erst kommt der Kuss in meinem Gehirn an und zwar mit der Wucht von mindesten 27 einhalb Bowlingkugeln gemeinsam.

Hektisch rüttele ich an Lydias Arm, die anscheinend gerade eine hochkomplexe Lösung für das KitKat-Problem gefunden hat.

"Ich weiß jetzt, wie wir das machen können! Wir nehmen einfach die Wurzel aus 3 und dann teilen wir durch-"

"Lydia!", zische ich gegen ihren lauten Monolog an.

Sie hält inne.


"Was?"


"Die haben sich gerade geküsst!"

Sie sieht zu Günter und James, die sich nun voneinander gelöst haben und zuckt mit den Schultern.

"Und?"

"Ich... Ich weiß nicht."

Ein Quietschen lenkt meine Aufmerksamkeit auf die einfahrende S-Bahn. Mein Mund steht immer noch leicht offen, als ich mich auf einen Platz am Fenster fallen lasse und einen letzten Blick zu James und Günter werfe, die sich innig umarmen.

Wir sehen uns das erste Mal und gleichzeitig auch das letzte Mal.

"Alles gut? Was ist denn schon dabei? Nur zwei Jungs, die sich lieben", sagt Lydia mit einer Stimme, als würde sie in Bio über die Photosynthese eines Gänseblümchens reden.

Ich nicke.

"Ja, alles gut.", sage ich leise, als die Bahn losfährt und die beiden händchenhaltenden Jungs auf dem Bahnsteig immer kleiner werden.

Lydia hat recht.

Was ist denn schon dabei?

Love is Love.

~1000 words against homophobia


#weagainsthomophobie

Danke für diesen tollen Text Surfergirl1105

WeAgainst: HomophobieWhere stories live. Discover now