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Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, als ich auf Zehnspitzen den Raum verlasse und danach mit schnellen Schritten, schon fast rennend, die Gemeinschaftsduschen betrete. Ich gehe in eine Kabine, schließe mich ein und ziehe mich aus und sobald das Wasser läuft, breche ich in Tränen aus.
Schon immer habe ich geglaubt, weinen sei etwas Besonderes. Etwas Wertvolles, weswegen man nur dann weinen sollte, wenn es das wert ist, zu weinen. Ich bin der Meinung, man solle es nicht achtlos verschwenden, denn es gibt nichts Schmerzvolleres, als nicht weinen zu können, weil man keine Tränen mehr übrig hat. Deswegen habe ich auch keine einzige Träne mehr verloren seit zwei Jahren. Seit dem Tod meiner Mutter.
Ich hatte geweint, als ich von ihrem Unfall gehört hatte.
Ich hatte geweint, als sie im Krankenhaus um ihr Leben gekämpft hatte.
Ich hatte geweint, als sie gestorben ist.
Ich hatte geweint, als sie beerdigt wurde.
Und dann, als ich alleine in meinem Zimmer war, weinte ich das letzte Mal, für etliche Stunden. Ich weinte und weinte und konnte nicht mehr aufhören. Ich weinte solange, bis ich einschlief. Und dann kam der nächste Tag und da war nichts mehr. Keine einzige Träne konnte ich mehr produzieren. Doch der Schmerz, der blieb. Und er war stärker als je zuvor. Wie sollte ich diesen Schmerz heilen ohne Tränen, welches es wegspült? Es war unerträglich. Ich starrte stundenlang die Zimmerdecke an, doch es klappte nicht. Ich war leer. Ausgetrocknet. Da habe ich gemerkt, wie kostbar Tränen wirklich sind. Denn man braucht sie zum Heilen der Wunden, zum Überwinden von Gefühlen. An diesem Tag hatte ich mir geschworen, nur dann zu weinen, wenn es das wirklich wert ist. Und Darren ist es allemal wert.
Ich schluchze bei der Erinnerung an die vergangenen Nacht und schrubbe meine Haut, bis sie rot wird. Doch jedes Mal wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn vor mir. Wie er weint, wie er mich küsst, nach mir greift.
Ich versuche mich zusammen zu reißen, mich zu Ermahnen. Denke daran, dass ich die Tränen wann anders gebrauchen könnte, doch ich schaffe es nicht, ich weine unaufhörlich weiter und schluchze und schluchze.
Ich stürze zu Knien, blicke auf meine Oberschenkel, die geziert sind von blauen Flecken und Kratzspuren. Ich erkenne die Verzweiflung, die Wut darin. Die Hoffnungslosigkeit.
Schaudernd schlinge ich die Arme um mich selbst und weine noch stärker. Was würde meine Mutter denken, wenn sie mich so sieht?
Ich höre Darren's Schluchzen in meinem Hinterkopf, mein Stöhnen, spüre seine festen Griffe, seine harten Bewegungen und mein Versuch, ihm zu helfen, zu trösten.
„Es tut mir leid, Tris", hat er immer wieder geflüstert. „Ich tue dir weh, es tut mir leid." Doch ich habe mich ihm immer mehr entgegen gedrängt. War willig, dass er sich nahm, was er in diesem Augenblick gebraucht hat, und auch wenn ich nun zusammenbreche, ich würde es wieder tun.
Ich sah die Hilflosigkeit in seinen Augen. Diesen Schmerz. Diesen Drang.
Und ich verstehe das.
Ich weine weiter.
Bis ich die jahrelang aufgesparten Tränen verbraucht habe.
Bis ich wieder... leer bin.
Mit dem Schmerz noch immer in meiner Brust.

Ich betrete gemeinsam mit Bailee die Cafeteria und ich bin irgendwie erleichtert, mich setzen zu können bevor mich Darren entdeckt. Ich bin noch nicht bereit auf die Intensität, die ein Zusammentreffen mit ihm verlangt.
„Alles in Ordnung Bea?", fragt Aisha besorgt, doch ich nicke nur und schmiere mein Brot.
„Sie ist schon den ganzen Morgen so drauf", meint Bailee und blickt mich besorgt an, doch ich antworte nicht, bin viel zu sehr beschäftigt an die vergangene Nacht zu denken. Es kommt mir komisch vor, dass alles seinen gewohnten Gang nimmt, obwohl ich mich wie eine komplett andere Person fühle.
Ich zucke zusammen, als jemand mich am Arm berührt.
„Ist alles okay?" Jenny's große Augen blicken mich besorgt an und sie wirkt so sanft und verständnisvoll, dass ich ihr mein ganzes Herz ausschütten möchte.
Ich möchte ihr sagen, dass ich gestern das erste Mal Sex hatte mit dem Mann, den ich liebe, doch es war so intensiv, dass ich damit nicht klarkomme. Dass es so anders war, als ich es mir für mein erstes Mal gewünscht hatte. Und dass Darren so gebrochen ist, wie kein anderer den ich kenne und ich kann nichts unternehmen, um ihn zu reparieren.
Doch ich schweige.
Ich möchte nicht reden.
Ich will, dass es ihm besser geht.
Ich will doch nur, dass er glücklich ist.

„Ich will nach Hause!", meckert Bailee und betont trotzig jedes einzelne Wort, als wir auf dem Rückweg von den Ställen sind und neben Mr Miller laufen.
„Genieß doch die Natur ein Wenig Bailee", ermutigt er sie und strahlt sie enthusiastisch an.
„Ja, klar. Schweine Ställe sind ja perfekt um die Natur zu genießen. Mal ehrlich, Mr Miller, was bringt uns dieser Ausflug?", will Bailee wissen und sieht zu unserem Lehrer, der nur seufzt.
Während sie weiter diskutieren, höre ich ihnen schmunzelnd zu bis sich jemand zu mir gesellt. Und allein seine Präsenz reicht aus, denn mein Körper reagiert prompt auf ihn. Wenn möglich noch heftiger als sonst.
Wir sind uns den ganzen Tag aus dem Weg gegangen, wobei, ich ihm besser gesagt gemieden habe.
„Wie geht's dir Tris?", fragt er, nachdem wir einen gewissen Abstand zu Bailee und Mr Miller haben. Seine Stimme hat sofort einen beruhigenden Effekt auf mich und ich merke, wie ich ihn vermisst habe. Ich sehe ihn an und mir wird warm ums Herz. Seine Augen sehen mich besorgt an und er wirkt sehr nervös.
„Gut", antworte ich und nehme seine Hand. Er beruhigt sich etwas. Wie immer beginnt er kleine Kreise in meine Handinnenfläche zu zeichnen.
„Dir?", frage ich und hoffe auf eine ehrliche Antwort.
„Gut", wiederholt er meine Worte und nun sehe ich ihn besorgt an. Er küsst meine Hand und ich kann endlich wieder lächeln. Dann laufen wir still nebeneinander her, lauschen Bailee und Mr Miller und halten Händchen.

the burden - Die Bürde unserer LiebeWhere stories live. Discover now