Die Vielfalt seiner Blicke

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Kapitel 2 Die Vielfalt seiner Blicke

Am Abend sitze ich erneut vor meinen Rechner. Bisher habe ich noch kein einziges Wort aufs digitale Papier gebracht, sondern starre einfach auf die beiden Bücher, die neben mir liegen. Ich bilde mir ein seinen Geruch daran wahrzunehmen, obwohl das totaler Blödsinn ist.

Das Telefon neben mir beginnt zu vibrieren. Annis Name leuchtet mir auf dem Display entgegen. Ich zögere einen Moment, doch sie gibt nicht auf und ich gehe ran.

„Hey Darling, wie geht es dir?", flötet sie mir von der anderen Seite des Telefons entgegen und ich komme nicht umher laut zu seufzen. Anni hat ein Faible für englische Anreden und Kosenamen. Ich muss darunter leiden. Ich habe noch kein Wort gesagt, da höre ich am anderen Ende schon die verwunderte Frage.

„Oh nein, was hast du gemacht, Ben?" Ich seufze erneut. Wie macht sie das nur?

„Gar nichts", versuche ich mich herauszureden.

„Und wieso seufzt du dann so theatralisch?" Ich verfluche sie.

„Ich war bei ihm", gestehe ich lapidar.

„Oh nein, wieso? Ich dachte, wir besprechen erst einmal den Schlachtplan bevor du blindlings ins Verderben rennst."

„Schlachtplan? Es gibt hier nichts zu erobern, Anni. Ich brauchte Bücher für die dämliche Hausaufgabe und in der Bibliothek gab es keine mehr, da bin ich zu seinem Büro gegangen. Ich wollte gar nicht klopfen, doch dann hat er die Tür aufgemacht. Ich konnte ja, schlecht weglaufen. Also entschied ich mit erst für Schockstarre und dann für mittelschweres Rumgestammel"

„Oh, Ben. Und dann?"

„Nichts, er hat mich mehr oder weniger ignoriert." Nun klinge ich bemitleidenswert.

„Bist du dir sicher, dass er dich erkannt hat?"

„Ja... Nein... Keine Ahnung."

„Ach Ben!"

„Spar dir, das 'Ach Ben'. Das macht das Chaos leider nicht besser."

„Und was wirst du jetzt tun?", fragt sie mich und ich zucke, obwohl sie es nicht sehen kann mit den Schultern. Ich weiß nicht, was ich überhaupt tun kann. Anscheinend will er mich nicht erkennen und das hatte sicher seine Gründe. Gründe, die ich auch nachvollziehen kann. Bisher habe ich über keine Konsequenzen nachgedacht, doch sicher gibt es welche. Entweder private oder akademische. Dessen bin ich mir sicher. Ein Freund, eine Freundin oder Familie. Ich spüre, wie sich mir der Magen umdreht. Nach dem One-Night-Stand war mir das alles egal gewesen, doch jetzt. Ich weiß nichts über ihn. Allerdings weiß ich nun seinen Namen. Mein Blick wandert automatisch zu meinem Laptop und meinem funktionierenden Internetanschluss.

„Ben?" Annis Stimme ist ganz weich. Ich versuche meine Gedanken von dem Thema zu lösen, doch ganz gelingt es mir nicht.

„Vielleicht sollte ich mich einfach für Kunstgeschichte einschreiben..."

„Du hasst Kunst."

„Nein, die Kunst hasst mich." Genau genommen habe ich einfach nur zwei linke Hände. Anni lässt es unkommentiert stehen. „Ich habe Hunger und will einfach nur noch ins Bett. Lass uns ein anderes Mal darüber reden."

„Okay. Hey, du kannst mich zu jeder Tag- und Nachtzeit erreichen, ja?"

„Ich weiß, danke!" Sie haucht mir einen Kuss durch das Telefon und ich lege auf.

Ich lasse das Handy auf meine Brust sinken, lehne mich zurück und schließe die Augen. Meine kühlen Hände betten sich flach an meine Wangen. Ich reibe mir darüber und verdecke danach meine Augen. Ich atme tief ein und fahre mir dann wieder über die leicht stoppeligen Wangen.

Kiss me hard before you goWhere stories live. Discover now