Seine Hände bringen das Vergessen

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Kapitel 6 Seine Hände bringen das Vergessen

Es ist nicht das erste Mal, dass ich zu seiner Nummer scrolle, Minuten lang auf das Display starre, aber es ist das erste Mal, dass ich seine Nummer wirklich fast wähle. Mein Daumen wandert über das glatte Display, streichelt fast liebevoll das kühle Glas. Ich möchte seine Stimme hören, obwohl ich nicht einmal weiß, was ich ihm sagen soll. Als ich meinen Kopf gegen die kühle Scheibe des Zuges lehne, spüre ich sofort die heftigen Vibrationen, die sich durch meinen Schädel arbeiten. Unnachgiebig und dennoch beruhigend, fast einlullend. Kurz schließe ich die Augen und drücke tatsächlich auf den grünen Hörer des Handys. Antony kennt meine Nummer nicht, doch daran denke ich gerade nicht. Das Klingeln ist leise und geht bei den geräuschvollen Vibrationen in meinem Ohr fast unter. Es dauert einen Moment bis er abhebt. Für ihn ist es nur eine fremde Nummer auf dem Display zu sehen.

„Rochas", kommt es bürokratisch kalt.

„Hast du Zeit für mich?", frage ich leise. Ohne Begrüßung und ohne Umschweife. Ich höre, wie es am anderen Ende der Leitung für einen Moment still bleibt.

„Ben?", erkundigt sich Antony zurückhaltend.

„Ja." Einsilbig. Ich kann den deprimierten Klang meiner Stimme nicht vollkommen verstecken.

„Was ist los?", fragt er mich verwundert, doch ich will ihm über das Telefon nicht antworten.

„Hast du Zeit für mich?", wiederhole ich und warte auf seine Reaktion. Wenn er ja sagt, würde es mir zeigen, dass ihm mehr an mir liegt als reiner Sex. Sagt er dagegen nein, dann weiß ich worauf ich setzen muss. Ich hoffe inständig, dass er ja sagt.

„Hör zu, ich bin noch in der Uni beschäftigt..." Der erste Kitzel der Enttäuschung. Doch noch ist es kein richtiges nein. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie er auf die Uhr sieht und sich unsicher über den gestutzten Bart streicht. Ich höre, wie er etwas hin und her schiebt. Metall, das sich durch Papier bohrt. Das Geräusch des Tackers.

„...aber ich bin gleich fertig. Wo bist du?", fährt er fort und ich atme aus. Mein Herz macht einen leichten Sprung. Bubbert und pocht.

„Ich komme gleich am Hauptbahnhof an", sage ich nach einem Blick nach draußen in die Dunkelheit. Bäume ziehen schnell an mir vorbei und auch die ersten Häuser. Sie wirken im fahlen Licht der Laternen monströs und düster.

„Am Hauptbahnhof? Wieso bist du am Hauptbahnhof...egal... Gib mir 15 Minuten und dann hole ich dich dort ab, okay?" Erneut höre ich, wie er etwas bewegt. Das Klirren eines Glases. Das Klicken einer Aktentasche.

„Danke", flüstere ich und lege auf. Als der Zug ankommt, lasse ich mir Zeit und setze mich vor dem Bahnhof auf eine Bank. Ich habe das Gefühl, dass sich meine Glieder taub anfühlen. Ich kämpfe gegen die Enttäuschung, die Wut und auch gegen Trauer. Noch beim Verlassen des Zimmers konnte ich hören, wie meine Mutter und meine Schwester mit meinem Vater zu diskutieren begannen. In gewisser Weise fühlte es sich, wie ein Déjà-vu an. Einen Moment später die tiefe, durchdringende Stimme meines Vaters, die jeden weiteren Protest unterband. So ist es schon immer gewesen. Seine Stimme bricht Stahl und erst recht Herzen. Mein Vater ist ein alter Militär und seine Keine-Widerrede-Einstellung kann er nicht ablegen. Nicht einmal als er schon Jahre aus dem Militärdienst ausgeschieden war. Er war nie wirklich gefühlvoll oder väterlich und mein Outing hatte jede noch so winzige, sanfte Gefühlsregung für seinen Sohn komplett erstickt. Als hätte er es schon immer gewusst, dass aus mir nichts Vernünftiges werden kann. Von vornherein.

Nach dem Krankenhausbesuch bin ich noch mehrere Stunden in der Stadt herumgelaufen, habe meine alte Schule besucht und stand vor meinem Elternhaus. Drei Jahre ist es her, dass mich mein Vater rausgeworfen hat. In diesen Jahren war ich nur noch sporadisch zu Hause gewesen. Ab und an. Meistens heimlich. Mein Herz brennt. Doch obwohl er stets so streng mir gegenüber war, hat er dennoch ohne zu murren dafür gesorgt, dass ich wenigstens finanziell über die Runden komme. Genauso, wie auch jetzt meine Eltern mein Studium finanzieren. Ich weiß nicht, ob es allein die Worte und die Bitten meiner Mutter sind, die ihn dazu veranlassen.

Kiss me hard before you goDonde viven las historias. Descúbrelo ahora