Die Komplexität der Einfachheit

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Kapitel 17 Die Komplexität der Einfachheit

„Professor", murmele ich zur Kenntnis nehmend. Die dunklen Augen des älteren Mannes mustern mich aufmerksam. Sie wirken seltsam wissend und verstehend. Doch er kann es nichts wissen. Woher sollte er auch?

Ein unangenehmes Schaudern erfasst mich und lässt meine Hände einen Augenblick lang zittern. Ob er solche Szenen öfter miterlebt? Die junge blonde Frau, die damals mit tränenfeuchten Wangen aus Antonys Büro stürmte, kommt mir in den Sinn. Ebenso kommt auch unser Gespräch über seine Beliebtheit. Ich erinnere mich an sein verschmitztes Lächeln und die Versicherung, dass er außer mir niemand anderen so an sich herangelassen hat. In dem Moment war es ein gutes Gefühl gewesen. Nun weiß ich nicht mehr, was ich davon halten soll. Professor Strout nickt und ich setze mich gerade in Bewegung als es in meinem Rücken mörderisch knallt. Die Tür zu Antonys Büro vibriert verräterisch und ich schrecke merklich zusammen. Ein weiteres Rumsen ertönt, gefolgt von einem Klirren.

Ich kann nicht verhindern, dass ich mich zur Tür meines Dozenten wende. Abgesehen von Stille folgt nichts. Unwillkürlich stelle mir vor, wie die Kaffeetasse, die eben noch auf seinem Schreibtisch gestanden hat in Scherben vor der Tür liegt, wie sie gegen das harte Holz prallte und dann in hunderten Bruchstücken zu Boden rieselt. Es ist als würde ich ihn leise Schimpfen und Murmeln hören. Sicher klaubt er in diesem Moment die Scherben wieder auf. Als ich mich abwende, blicke ich in Professor Strouds Gesicht. Sein erschrockener Gesichtsausdruck weicht augenblicklich einem Verwunderten. Ein lautes Raunen hinter der Tür ist zu hören, welches nur gedämpft zu uns dringt.

Welche Fragen sich nun in seinem Kopf abspielen müssen? Ich spüre, wie sich auf meinem gesamten Körper eine kribbelnde Gänsehaut bildet. Sie streicht über meine Glieder mit einem kühlen Prickeln der Erleichterung und einer Spur von tiefsitzender Trauer. Uns beiden geht es schlecht mit dieser Situation und doch wissen wir uns nicht zu helfen. Ich schlucke schwer, weiche Strouds Blick aus und setze mich in Bewegung. Aus dem Augenwinkel heraus nehme ich wahr, wie er an Antonys Tür klopft.

Es ist niemand da als ich die Wohnungstür öffne. Die Zimmertüren meiner Mitbewohner stehen beide offen. Obwohl ich mir um deren sichere Abwesenheit bewusst bin, schaue ich in beide Räume und bin mir letztendlich nicht einmal sicher, was ich damit bezwecke. Meine Stimmung spricht gegen Gesellschaft. Ich verspüre nicht das geringste Bedürfnis zu kommunizieren oder irgendjemand Rede und Antwort zu stehen. Ein Blick in die Küche und dann erkläre ich mich selbst für bescheuert. Gesellschaft haben hin oder her aber die Stille der Wohnung macht mich nervös. Von der Küche mache ich einen Abstecher ins Badezimmer, trotte dann in mein Zimmer und öffne als Erstes das Fenster. Müdigkeit überfällt mich. Im Grunde begleitet sie mich schon die ganzen letzten Tage hindurch. Augenblicklich fällt mein Blick auf das Bett. Ich merke eine deutliche Anziehung, aber auch ein ebensolcher Widerstand. Seltsam hin und her gerissen, spüre ich, wie meine Glieder schwer werden und die andauernde Müdigkeit, wie ein Paukenschlag über mich hereinbricht. In meinem Kopf entfalten sich die Erinnerungen an die zweisamen Augenblicke zwischen mir und dem Portugiesen. Bilder entstehen, die meine Fingerspitzen pulsieren lassen und einen ergreifenden Schauer durch meinen Körper jagen. Nichts weiter als Fantasien und Sehnsüchte. Ich vermisse dieses wunderbare Gefühl, welches sich für ein paar Momente zwischen uns wähnte. Ein lauter Seufzer hallt durch den Raum, gefolgt von einem wütenden Knurren. Das muss aufhören. Diese deprimierenden und trübseligen Gedanken machen mich fertig. Der Stillstand bringt mich um den Verstand. Ich brauche Bewegung. Dringend.

Ich blicke auf die Uhr. Der Müdigkeit zum Trotz packe ich mir ein paar Trainingsklamotten zusammen und fahre zurück zur Uni.

Viele Leute kommen mir entgegen, als ich die Tür zum Fitnessbereich öffne. Auch an den Geräten ist einiges los. Mehr als bei den letzten Malen, die ich mit Anni hier gewesen bin. Ich ziehe mich um und bleibe unschlüssig stehen. Ich habe mir bisher nicht überlegt, was ich eigentlich machen will. Ausdauertraining? Ein paar Geräte? Erst mal aufwärmen. Meine Augen wandern die fleißigen Sportler ab. Schwitzende Körper. Angestrengte Gesichter. Bei einigen bin ich mir sicher, dass sie tatsächlich einen sportthematisierten Studiengang haben müssen. Andere sind einfach nur Poser. Ich schüttele meinen Kopf, weil ich jedes Mal aufs Neue nicht verstehe, was man daran toll findet. Eine schlanke Rothaarige sitzt auf einem der Fahrräder und die Blondine, mit der sie sich angeregt unterhält, arbeitet an den Kraftgeräten. Zwei junge Männer trainieren ihre Oberschenkel an der Presse.

Kiss me hard before you goWhere stories live. Discover now