Firefly #1

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(zuletzt überarbeitet am 3. Oktober 2015

- Kat -

Der Autounfall war jetzt drei Monate her. Ich konnte nicht mehr hier bleiben. Mein ganzes Leben lang hatte ich hier gelebt, ich war hier glücklich gewesen. Die Betonung lag auf den zwei Worten "war" und "gewesen". Denn seit sie weg war, hatte sich über jede noch so kleine fröhliche Erinnerung, die ich von dieser Stadt hatte, ein schwarzer Schleier gelegt. Alles was ich sah erinnerte mich an Mum. Dann waren da auch all die Leute aus der Nachbarschaft, die mich mit ihren bemitleidenswerten Blicken anstarrten. Meine Freunde behandelten mich auch anders, als würde ich zerbrechen, wenn sie nicht vorsichtig mit mir umgingen. Ich konnte das Ganze einfach nicht mehr. Ich musste weg von hier. Das hatte ich meinem Dad auch so gesagt und wir hatten gemeinsam beschlossen umzuziehen. Er meinte, dass es eine gute Idee wäre, nach Boston zu meiner Tante zu gehen. Meine Mum war ihre Schwester gewesen und sie hat das Ganze auch ziemlich schlecht verkraftet. Wir hatten seit der Beerdigung nicht mehr mit ihr geredet. Nur mit Lexa, meiner Cousine, ihrer Tochter und sie machte sich echt Sorgen um ihre Mutter. Zudem war Boston weit genug weg von all den Erinnerungen, die ich zurück lassen wollte. Also hatten Dad und ich angefangen nach Appartements in Boston zu suchen. Nach zwei Wochen hatten wir die perfekte Wohnung gefunden und wir würden in einer Woche von hier verschwinden. Unser Haus stand auch schon zum Verkauf, also fingen wir an unsere Sachen zu packen und ich zählte die Tage bis ich endlich meine private Hölle verlassen durfte. Am letzten Tag verabschiedete ich mich von meinen Freunden. Es fiel mir echt schwer sie zu verlassen. Mit den meisten von ihnen war ich groß geworden, ich kannte sie schon mein ganzes Leben und jetzt würde ich sie vielleicht nie wieder sehen. Aber ich schluckte die Tränen hinunter, als sie mich alle der Reihe nach umarmten und sich verabschiedeten. Ich hatte in den letzten Monaten soviel geweint und ich hatte die Nase voll. Irgendwann hatte ich beschlossen alle meine Gefühle für mich zu behalten und sie zu verdrängen. Das funktionierte bis jetzt eigentlich ganz gut.

*****

Ich packte noch die letzten Sachen aus meinem Zimmer in zwei Reisetaschen. Der Rest war schon Vorgestern nach Boston geliefert worden. Mein Dad kam und nahm die Taschen mit nach Unten. Währendessen zog ich meine Wintersachen an. Ich schaute noch ein letztes Mal in mein Zimmer, dann schloss ich die Tür und rannte nach Unten. Am Fuß der Treppe lagen meine bis oben hin voll gepackten Taschen. Durch die offene Haustür konnte ich meinen Dad sehen, wie er seinen Koffer im Kofferraum verstaute. Ich stand ganz allein in unserem leeren Haus, dem Haus in dem ich aufgewachsen war, dem Haus in dem meine Mum mir jede Nacht Rapunzel vorgelesen hat, weil ich nichts anderes hören wollte, dem Haus in dem ich meine Geburtstage feierte, dem Haus in dem ich erfahren hatte das meine Mutter nie wieder zurück kommen würde. Ich spürte wie sich der Kloß, den ich mittlerweile als meinen treuen Begleiter ansah, wieder in meinem Hals bildete, also nahm ich die zwei Taschen vom Boden hoch, schaute nochmal ins Haus zurück und schloss dann die Haustür hinter mir ab. Das wars. Ich zog scharf Luft ein. Zugegeben, ich hatte irgendwie erwartet, dass ich mich ein bisschen besser fühlen würde, sobald ich aus Philly raus kam, aber auch das machte die Schmerzen nicht weniger erdrückend. Natürlich würde Umziehen nicht augenblicklich alles besser machen, aber man kann ja wenigstens hoffen. 

Es war echt kalt, also vergrub ich mein Gesicht in meinem Schal und lief schnell auf meinen Dad zu, um ihm die Taschen zu geben. Dann setzte ich mich auf den Beifahrersitz und wartete bis mein Vater bereit war los zu fahren. Ich drehte mich noch einmal um, als wir davon fuhren, meine Augen aufs Haus gerichtet, bis es immer kleiner wurde und ich es nicht mehr sehen konnte. Das war der Schlussstrich den ich gewollt hatte, aber wieso zog sich dann mein Herz in meiner Brust zusammen?

*****

Nach dem eineinhalb stündigen Flug von Philadelphia nach Boston mussten wir noch gute zwanzig Minuten zu unserem Wohnhaus fahren. Ich saß mit meinem Vater im Auto, einem Mietwagen den wir benutzen durften, bis sie unser Auto rüber geschifft hatten, und hatte meinen Kopf ans Fenster gelehnt. Abwesend schaute ich zu, wie die anderen Autos an uns vorbei fuhren. Ich hatte mein Handy auf voller Lautstärke um die schreckliche Musik aus dem Radio zu übertönen. Immortals von Fall Out Boy dröhnt offenbar so laut aus meinen Kopfhörern, dass mein Dad es neben mir noch hören konnte, denn er stupste mich mehrmals an bevor ich aufsah. Er bedeutete mir, dass ich die Kopfhörer aus meinen Ohren nehmen sollte. Genervt verdrehte ich die Augen und machte die Musik aus.

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