Dreißig

1.2K 49 2
                                    

𝒦𝓎𝓈ℴ𝓃
ᴇᴠᴀɴs

Im Moment saß ich mit Clio und Ryan in meinem Wohnzimmer, während wir uns im Fernsehen ein Footballspiel reinzogen. Die zwei wollten unbedingt vorbei schauen, also hatte ich nach fünf Tagen dauerhafter Beschallung in Form von Anrufen und Nachrichten, nachgegeben und zugestimmt. Bis jetzt bereute ich es noch nicht.

Doch als Clio die Lautstärke auf einmal runterdrehte – mitten im Spiel – wusste ich, dass jetzt eine Standpauke folgte.

»Du hast fünf Tage lang unsere Anrufe ignoriert und wir mussten von Aleas Bruder erfahren, dass ihr beiden jeden Tag zusammen verbringt. Offensichtlich seit dem Sommerball. Bist du nicht auf die Idee gekommen uns beide Mal aufzuklären, Ky?«

Ich sah in Clios graue Augen und musterte ihn eine Weile. Dann wanderte mein Blick zu Ryan, welcher nicht ganz zu angepisst wirkte. Aber auch in seinen Gesichtszügen spiegelte sich Enttäuschung wieder. Ich bekam Flashbacks, als ich die beiden ein halbes Jahr ignoriert hatte. Sie von mir stieß, als wären wir nie beste Freunde gewesen. Und dann, nach einem halben Jahr, ließ ich sie zurück in mein Leben. Ich war ein schrecklicher Freund und ich hatte mir damals auch geschworen, die beiden nie wieder so zu enttäuschen.

»Kyson? Clio und Ryan sind da. Kommst du bitte Mal aus deinem Zimmer?«, hörte ich Mom vor meinem Zimmer fragen. Sie klopfte zärtlich gegen meine Zimmertür. Es war jetzt ein halbes Jahr her, seit ich die beiden ziemlich übel beleidigt und sie von mir gestoßen hatte. Keine Ahnung, was in dem halben Jahr mit ihnen passiert war. Es hatte mich nicht interessiert, nichts war mir wichtig. Ich wollte einfach nur allein sein, über das nachdenken, was passiert war. Schlafen konnte ich nun seit Monaten nicht mehr richtig, wenn es hinkam, schlief ich zwei Stunden am Stück. Wenn es hinkam.

Also war ich wirklich überrascht, als da tatsächlich Ryans Stimme vor meiner Tür ertönte.

»Ky? Ich bin's. Clio ist mit deiner Mutter nach unten gegangen«, sagte er und ich stand von meinem Bett auf. In dem Moment empfand ich nichts, wie in allen anderen Momenten jedes Tages. Langsam öffnete ich die Tür und schaute in Ryans Gesicht, der ein Stück größer als ich, war.

Er wirkte erstaunt. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ich ihm die Tür öffnete.

»Ich will diese Freundschaft hier nicht aufgeben, Kyson. Du hast mir damals den Rücken gestärkt, als Alexander gestorben ist. Ich möchte jetzt auch für dich da sein«

Als er Alex erwähnte, traten Tränen in seine Augen und mein Herzschlag setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus. Alexander war neun Jahre, als er starb. Er war Ryans jüngerer Bruder, der eines Nachts an einem epileptischen Anfall starb und nie wieder aufwachte. Ryan war mit seinen 16 Jahren ein ziemliches Wrack gewesen. Doch er ließ sich von seiner Freundin Natascha, Clio, mir und...Hayley helfen. Wir taten unser Bestes, ihm in dieser Phase beizustehen.

Ich holte tief Luft und senkte den Blick, weil ich einsah, dass wir drei bisher alles durchgestanden hatten. Aber diesmal war es anders. Das hier warf mich komplett aus dem Leben.

»Kann ich dich wenigstens für einen Moment in die Arme nehmen, Ky? Wir haben uns sechs Monate nicht gesehen«, er sagte das so verzweifelt, dass mein Herz ganz schwer wurde. Ohne etwas zu erwidern, zog mich der muskulöse Russe in seine Arme und hielt mich fest. Ich wollte nicht, dass mir diese Umarmung Trost spendete, doch das tat sie. Also erwiderte ich seine freundschaftliche Geste und schloss die Augen. Ich konnte die beiden nicht mehr von mir stoßen, denn sie würden nicht aufgeben. Und ich wollte sie nicht auch noch verlieren. Als ich die Augen öffnete, stand Clio hinter Ryan und ich erkannte ihn gar nicht wieder. Er war abgemagert und sah so schwach aus. Und Tränen liefen ihm über die Wangen. Vorsichtig löste ich mich von Ryan.

Kyson EvansWhere stories live. Discover now