Eins

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𝒜 𝓁 ℯ 𝒶
ᴡɪʟʟɪᴀᴍs

Meine Mom sagte immer: Menschen kommen und gehen, Alea. Daran wirst du nichts ändern können.

Nun, meine Mutter hatte recht.

Auch wenn sie es damals, während meines ersten großen Liebeskummers, anders meinte, als ich es gerade eben.

Hier, hinter der Theke des Anderson Cafés konnte ich täglich hunderte von Menschen dabei beobachten, wie sie kamen, aßen, tranken, miteinander sprachen, lachten, lebten und viele nach einiger Zeit wieder getrennte Wege gingen. Manche sah ich morgen wieder, andere womöglich nie mehr.

An einige würde ich mich nicht mehr erinnern, andere hingegen blieben mir vielleicht für immer im Gedächtnis.

»Einen kleinen Kaffee, bitte. Schwarz«, hörte ich eine dunkle, leicht rau klingende Stimme sagen und wendete meinen starren Blick von dem leeren Tisch, welcher fünf Meter weiter von mir stand, ab, um in grüne Augen zu sehen. Augen, die mich an die hellgrüne Schale eines saftigen Apfels erinnerten.

Ich benötigte eine Sekunde, oder vielleicht auch zwei, bis ich meinen Blick von ihnen losreißen konnte und in sein Gesicht sah.

Sein Haar war tiefschwarz, wie seine Augenbrauen, wobei seine linke Braue eine Unterbrechung aufwies. Ob es eine Narbe war oder ein absichtlich gesetzter Cut war, war mir nicht klar.

Mir blieb keine Zeit, die Haut an der Stelle genauer zu betrachten, da hatte er die Stirn bereits in Falten gelegt und den Kopf minimal zur Seite geneigt. Leichte lilafarbene Augenringe ließen ihn erschöpft wirken.

»Hallo?«, fragte er vorsichtig, als wäre er sich nicht so sicher, ob ich geistig überhaupt ansprechbar war.

Ich räusperte mich, blinzelte zweimal und setzte ein möglichst professionelles Lächeln auf.

»Kommt sofort«, erwiderte ich und verspürte das vertraute Brennen meiner Wangen, wenn mir etwas höchst unangenehm war. Der Kunde kommentiere mein eigenartiges Verhalten nicht, sah sich schweigend in dem Café an der Hauptstraße um und wartete geduldig auf seinen Kaffee.

Wie man dieses Gebräu ohne alles trinken konnte, war mir ein Rätsel. Trotzdem reichte ich ihm wenig später die Tasse Kaffee und sah unsicher wieder in das faszinierende Grün.

Er kramte in seiner schwarzen Vordertasche seiner Jeans und legte mir dann einen fünf Dollarschein in die Hand.

»Das stimmt so«, murmelte er und verzog sich in die dunkelste Nische des Raumes.

Nachdem ich die Kasse wieder schloss, stützte ich mich mit der Hüfte am Tresen ab, während ich ihn versuchte unauffällig zu beobachten.

Das Anderson war um diese frühe Zeit – es war noch nicht einmal sechs Uhr - eigentlich immer so gut wie leer, auch heute.

Er war der einzige Kunde. Der Mann trug seine schwarze Jeanshose in Kombination mit einem schwarzen Shirt und einer ebenfalls schwarzen Lederjacke. Schwarz schien ihm zu gefallen.

Mit einer Hand umgriff er die Tasse und nahm einen Schluck aus ihr.

Moment. Irritiert verengte ich meine Augen und erkannte, dass er die glühend heiße Porzellantasse nicht wie jeder andere am Henkel gegriffen hatte, sondern mit der ganzen Hand. Als er die Finger und anschließend die gesamte Hand davon entfernte, konnte ich die gerötete Haut erkennen. Er hatte sich wahrscheinlich ziemlich verbrannt, doch es schien so, als kümmerte ihn das nicht – oder, als würde er es nicht bemerkt haben.

Stattdessen kramte er in einem kleinen, schwarzen Rucksack herum, den er auf den leeren Stuhl neben sich abgestellt hatte und daraus ein kleines, beschädigtes Buch hervorzog, es auf einer Seite aufschlug und darin las.

Kyson EvansOù les histoires vivent. Découvrez maintenant