neunundzwanzig

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Das hatte ich wahrlich nicht erwartet.

"Ich meine es ernst. Ich kündige.", wiederholte ich und legte all meine Ehrlichkeit in meine Worte.

Thomas lächelte mild.
"Daran zweifle ich nicht. Ich schicke dir morgen früh einen Wagen, der dich zum Flughafen bringt."

Perplex starrte ich ihn an.
Ich hatte mich auf jede nur erdenkliche Reaktion eingestellt; nur nicht auf das.

"Morgen? Aber du hast noch keine neue Agentin", erinnerte ich ihn, sobald ich meine Sprache wiedergefunden hatte, und handelte mir damit vermutlich einige weitere Tage in London ein.

Aber wollte ich das nicht eigentlich?
Nein.
Ich wollte nicht nur ein paar mickrige Tage mit diesem Mann verbringen, sondern mein gesamtes restliches Leben.

Stopp, Blair.
Nicht denken.
Es war besser so.

"Mach dir darüber keine Gedanken.", entgegnete er und griff wieder nach seinem Queue, da Dylan soeben mit einem brillianten Stoß gleich zwei Kugeln in einem Loch versenkt hatte.
"Es gibt eine Person, die sich perfekt dafür eignet, deinen Platz einzunehmen."
Mit diesen Worten beendete er unser kurzes Gespräch, positionierte sich am anderen Ende des Billiardtischs und meisterte einen eleganten Bogenstoß.

Da wurde mir etwas klar.

Egal, welche Gefühle unter dieser perfekten Decke aus Kälte und Desinteresse toben mochten; ihr Besitzer wusste, wie man sie versteckte.

*

Als ich am nächsten Morgen auf mein Smartphone schaute, erwartete mich eine SMS von Harvey.

'Du hast gekündigt?'

Ich seufzte.

'Nein. Hab' nur so getan.', schrieb ich voller Sarkasmus zurück.

Keine fünf Minuten später stand er vor meiner Suite und redete auf mich ein, als hätte ich vor, einen Anschlag auf das weiße Haus auszuüben.

"Wenn du deine Kündigung nicht sofort zurücknimmst, dann hänge ich dich für den Rest deiner Tage kopfüber vom Balkon", drohte er und umklammerte dabei mit seinen kräftigen Pranken meine Schultern.

Ich schmunzelte über seine rührende Zuneigung gegenüber mir, machte ihm aber gleichzeitig klar, dass mich nichts und niemand von meinem Entschluss abbringen konnte.
"Ich bin sicher, du wirst dich genauso gut mit der neuen Agentin verstehen, wie mit mir."

"Nein."
Harveys Stimme war erfüllt von purem Trotz, wie die eines bockigen Kindes.
"Egal, was Thomas zu dir gesagt haben mag, niemand kann dich ersetzen."

"Sei dir da mal nicht so sicher.", murmelte ich mit einer ordentlichen Portion Pessimismus in der Stimme.
Ich wusste, dass wenn ich mir meine freundschaftliche Zuneigung gegenüber diesem Mann zu stark anmerken lassen würde, mir dies den Abschied bloß schwerer machen würde als nötig.

Seufzend fuhr Harvey sich mit der Handfläche übers Kinn.
"Ich wünschte, ich könnte dich wenigstens zum Flughafen begleiten. Aber du weißt ja, da ist dieses Fotoshooting für die Vogue", sagte er, und ein entschuldigendes Lächeln schlich sich unauffällig auf sein markantes Gesicht.

Wirklich ein liebenswerter Kerl.

"Ist schon gut, wirklich.", beschwichtigte ich.

Dann passierte eine Weile lang gar nichts.
Wir standen uns nur gegenüber, auf dem engen Hotelflur, und schwiegen uns betreten an.

Irgendwann schließlich löste ich mich aus meiner Starre und schlang wortlos meine Arme um Harveys breite Taille.

Er zuckte kurz zusammen, doch dann spürte ich, wie sich seine warmen, schützenden Hände zögerlich auf meinen Rücken legten und damit meine etwas unbeholfene Umarmung erwiderten.

"Mach's gut, Harvey.", raunte ich in den Stoff seines marineblauen T-Shirts.

Dann ließ uns ein kurzes Räuspern erahnen, dass wir nicht mehr länger allein waren.

Schnell lösten wir uns voneinander und sahen in die Richtung, von der das Räuspern ausgegangen war.

Dort stand Dylan, die Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben, und grinste mich aus seinen aufgeweckten Schokoladenaugen an.
"Hey, ihr zwei."

Harvey würdigte er keines Blickes. Aber wer konnte ihm das schon verübeln?

"Hey", erwiderte ich seinen Gruß und fuhr mir etwas nervös durch mein blondes Haar.
"Offenbar bleibt hier in London selbst die Kündigung einer einfachen Agentin nicht lange unbemerkt."

Dylans Grinsen verschwand schlagartig.
"Du hast WAS?"

Ich zuckte stumm die Schultern, da ich nicht wusste, was ich anstelle dessen hätte tun sollen.

"Gott sei Dank bin ich früh genug hergekommen.", sagte er, die Stirn in tiefe Falten gelegt.
"Ich muss nämlich dringend mit dir reden."

Oh, na großartig.

"Dann lasse ich euch mal alleine", sagte Harvey, nicht ohne mir noch ein letztes Mal die Hand auf die Schulter zu legen, und rettete sich in seine Suite.

Ich verschränkte erwartungsvoll meine Arme vor der Brust, um Dylan zu symbolisieren, dass er meine ungeteilte Aufmerksamkeit genoss.

Er rührte sich nicht vom Fleck, während sein Blick mich erforschte, als würde ich das Interessanteste sein, was er jemals gesehen hatte.
Im dämmrigen Licht des Flurs harmonierte sein leicht gebräunter Teint perfekt mit seinem dunklen Haar, welches wiederum sein hübsches Gesicht hervorhob.
Er hatte ein paar kleine Muttermale auf der linken Wange, ein Detail, welches mir nie wirklich aufgefallen war;
doch während sie bei jeder anderen Person kleine Makel aufgewiesen hätten, waren sie bei Dylan bloß eine Vervollständigung seiner Vollkommenheit.

Ja, er war attraktiv. Sehr sogar.

THE WAY IT GOES ϟ t.b.sWhere stories live. Discover now