Schatten der Vergangenheit

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Langsam zog der Frühling im Süden Galliens ein und vertrieb die Kälte des Winters. Die Vögel fingen wieder an zu zwitschern und die Hoffnung auf einen milden Sommer, der eine gute Ernte bescherte, lag in der Luft. Wie so oft in den vergangenen drei Monaten kniete Kiana auf dem Boden und schrubbte die marmornen Böden des großen Atriums im Haus des Statthalters. Langsam gewöhnte sie sich an diese Art von Aufgaben, obwohl sie körperlich eine wahre Herausforderung waren. Noch nie hatte sie solche Tätigkeiten selbst verrichten müssen. Die Arbeit half ihr aber auch, sich von ihrem Kummer abzulenken. Denn sobald sie an das Leben dachte, das sie für immer verloren hatte, durchfuhr sie ein körperlicher Schmerz, den sie nie zuvor erlebt hatte. Es war, als würde ein glühender Dolch sie durchbohren, der schmerzhaft bis in ihr Innerstes vordrang und dort Verletzungen hinterließ, die wohl nie ganz verheilen würden. Sicher würde es mit der Zeit besser werden, aber die Narben würden ewig auf ihrer Seele haften bleiben. Es war jedoch nicht allein die Sehnsucht nach ihrem alten Zuhause, welche sie in diese Verzweiflung trieb, sondern auch die nagende Ungewissheit, ob es nicht doch Überlebende gab. Immer wieder musste sie an ihren Bruder Drystan und ihre Tante Fabala denken. Von ihnen fehlte nach wie vor jede Spur. Sie mussten einfach am Leben sein! Sonst wären sie gewiss bei ihren toten Eltern gewesen! Verzweifelt klammerte sich Kiana an ihre Hoffnung, dass ihr Bruder noch am Leben war und sie eines Tages aus der Sklaverei befreien würde.

Und die anderen Dorfbewohner? Sie hatte nur einen flüchtigen Blick auf die vielen Leichen am Boden werfen können, sodass sie nicht sicher sagen konnte, wie viele Menschen tatsächlich für sie ihr Leben gelassen hatten. Sie betete zu den Göttern, dass sich noch einige rechtzeitig in die Wälder hatten retten können. Ihr Herr hatte ihr zwar versprochen, dass er Erkundigungen einholen würde, doch glaubte Kiana nicht daran, dass er sein Versprechen einhalten würde. Der Statthalter war, wie so oft in den vergangenen Wochen, in seinem Arbeitszimmer und beriet sich mit seinen Generälen, wie er weiter gegen den Aufstand der Aquitanier vorgehen wollte. Am Morgen empfing er nur eine begrenzte Zahl von Klienten, um seine tägliche salutatio abzuhalten. Kiana bezweifelte daher, dass ihr Herr sich überhaupt noch an sein Versprechen erinnerte. Oft schweiften ihre Gedanken zum Statthalter von Gallien ab. Ein kleines Lächeln umspielte dabei jedes Mal ihre Lippen, wenn sie über ihn nachdachte und ihr Herz schlug dann schneller als gewöhnlich. Seit ihrem gemeinsamen Spaziergang durch den Garten vor ein paar Wochen war sie jedoch nicht mehr alleine mit ihm gewesen. Sie sah ihn nur, wenn sie ihn zusammen mit den anderen Sklavinnen bedienen musste. Zwar spürte sie die Blicke, die er ihr zuwarf, doch ansonsten hielt er sich von ihr fern. Langsam begann sie, ihm zu vertrauen. Bis jetzt schien er wirklich kein Monster zu sein. Im Gegenteil. Sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart. Schnell schüttelte sie den Kopf. So durfte sie nicht über ihn denken. Nicht nur war er ihr Herr, sondern auch ein Römer. Ihre Mutter würde sie anschreien und ihr sagen, sie solle sich nicht von seinem hübschen Gesicht blenden lassen. Den Römern durfte man nicht über den Weg trauen. Sie beschimpften zwar ihr Volk als Barbaren, doch waren es die Römer, die vor zwanzig Jahren in ihr Land eingedrungen, es gewaltsam unterworfen und unglaubliche Gräueltaten in dieser Zeit verübt hatten. Vor ihrem geistigen Auge sah sie bereits, wie ihre Mutter auf ihre Tante Fabala deutete, die es gerade so in ihr Dorf geschafft hatte, nachdem die Römer ihren Stamm zerstört hatten. Zwei Jahre später zog ihr Vater gegen Caesar in den Krieg. Kiana erinnerte sich noch gut an den Abend, bevor er nach Alesia aufgebrochen war.

Es war ein ruhiger Abend im Dorf der Segusiavi. Die meisten Dorfbewohner hatten sich in ihre Hütten zurückgezogen. Nur in der Ferne konnte man das leise Heulen der Wölfe und das Zirpen der Grillen vernehmen. In einer Ecke der großen Hütte des Stammesfürsten prasselte das Feuer. Die Flammen tauchten die Gesichter von Melvin und seiner Gattin Marvina, so wie das seiner Schwägerin Fabala in ein orangerotes Licht. Melvin war ein großer stattlicher Mann, mit langen blonden Haaren und einem Schnurrbart. Sowohl seiner Körperhaltung als auch seiner Statur sah man an, dass er nicht nur der Fürst der Segusiavi, sondern zugleich ein Krieger war. Trotz seiner fünfunddreißig Jahre strotzte er nur so vor Kraft und Muskelmasse. Seine Frau dagegen war eine kleine, zierliche Person, die zudem zwei Köpfe kleiner als ihr Gatte war. Sowohl Marvina als auch ihre kleine Schwester Fabala hatten langes, dunkelrotes Haar und teilten sich dieselben feinen Gesichtszüge. Beide hatten ein rundliches Gesicht, wenn auch das von Fabala noch kindlicher wirkte. Immerhin trennten die beiden Schwestern fünfzehn Jahre. Auf der anderen Seite des Raumes schliefen Melvins und Marvinas Kinder Kiana und Drystan bereits auf dem mit Stroh und Felldecken bedeckten Boden. Oder jedenfalls nahmen ihre Eltern dies an. Denn das kleine Mädchen, das die blonden Haare ihres Vaters geerbt hatte, hatte ihre Augen weit geöffnet und sah zu ihrem Bruder, der ebenfalls dem Gespräch der Erwachsenen aufmerksam lauschte. Den Geschwistern war es nicht entgangen, dass eine seltsame Stimmung über dem Dorf lag. Zwar waren die meisten Stämme in Aufruhr, seitdem Julius Caesar mit seinen Legionen in Gallien eingedrungen war, doch der heutige Tag war anders. Die Männer des Dorfes hatten sich zusammengetan und bereiteten sich auf die kommende Schlacht vor. Sie hatten sich Vercingetorix, dem Fürsten der Arverner, angeschlossen und eben dieser Fürst wurde von Caesar in Alesia belagert. Die Männer übten noch ein letztes Mal mit den Frauen an den Waffen, damit diese im Ernstfall das Dorf verteidigen konnten. Denn es sollten nur wenige, hauptsächlich ältere Männer, zurückbleiben. Die meisten von ihnen, die sich im Mannesalter befanden, wurden bei Alesia zum Kämpfen gebraucht. Schließlich war es der letzte, verzweifelte Versuch, die Römer aus Gallien zu vertreiben. Alle wussten, dass ein Scheitern das Ende ihrer Freiheit bedeuten würde. 

Römische Verhältnisse - Die Diener RomsWhere stories live. Discover now