Mabon

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Die Sonne war bereits am Horizont untergegangen, als Kiana an diesem Tag, es war der 23. September, vor dem Fenster im Schlafgemach ihres Herrn stand und mit einem sehnsüchtigen Blick, das Farbenspiel der Bäume bewunderte. Dabei summte sie eine leise Melodie vor sich hin, die sie an längst vergangene Tage erinnerte.

Von außen betrachtet, war dieser Tag nicht anders als jeder Herkömmliche sonst. Auch dass Kiana in diesem Zimmer und nicht in den Sklavenunterkünften stand, war nichts Ungewöhnliches mehr. Sie bewohnte es mittlerweile seit drei Monaten. Ihr Herr wünschte es so, und Kiana war weder in der Position ihm zu widersprechen, noch hätte sie es ernsthaft gewollt.

Wie jeden Tag nahm das Mädchen auch an diesem Abend ihr Essen mit ihrem Herrn im Triclinium ein. Marcus hatte dann noch einmal seinen Sekretär Linus aufgesucht, um ihm noch etwas zu diktieren, während Kiana sich in das Schlafgemach begab, um sich für die Nacht mit ihrem Herrn fertig zu machen.

Doch an diesem Abend konnte sie nicht anders, als ans Fenster zu treten und an längst vergangene Zeiten zu denken. Denn heute war kein gewöhnlicher Tag. Heute war Mabon, eines der bedeutendsten Feste in ihrer Heimat, dass zu Ehren des Sohns des Lichts stattfand. Heute befand sich die Welt für einen kurzen Moment in perfekter Harmonie. Heute hielten sich Tag und Nacht die Waage.

An Mabon feierte man das Ende der Erntezeit und Kiana dachte daran, wie sie sonst an diesem Tag mit ihrer Mutter die letzten Früchte des Jahres verarbeitete, oder mit ihrem Bruder durch den Wald lief, um Pilze und Beeren zu sammeln. Für die junge Frau waren es mittlerweile nicht mehr nur schöne, sondern auch schmerzhafte Erinnerungen, denn sie erinnerten Kiana an alles, was sie verloren hatte.

Unweigerlich musste sie daran denken, dass Mabon gleichzeitig ein Fest des Wandels, der Dankbarkeit und des Abschiedes war. Kiana fühlte, dass es langsam an der Zeit war, sich von ihrem alten Leben zu lösen. Die Erinnerungen an ihre Heimat verblassten immer mehr und sie wusste, dass es kein Wiedersehen geben würde. Ihre Familie war tot und ihr Onkel hatte wohl oder übel die Macht über die Segusiavi übernommen. Kiana schauderte es immer noch bei dem Gedanken. Fast schon wollte sie Marcus bitten, ihn abzusetzen. Aber es würde vermutlich zu noch mehr Unmut unter den Dorfbewohnern führen, wenn der römische Statthalter sich in innere Angelegenheiten einmischte. Zudem würde dadurch Haerviu unweigerlich herausfinden, wo sie war, denn warum sollte sich der Statthalter sonst darum kümmern wollen.

Ihr Herr war der einzige Lichtblick in all der Grausamkeit. Wenn sie für eine Sache dankbar war, dann für ihn. Die Götter hatten ihr eine zweite Chance gegeben. Zwar würde sie nie in Freude darüber verfallen, dass man sie in die Sklaverei verkauft hatte, doch war sie sich des Glücks bewusst, das sie hatte, als ihr Herr sie auf dem Sklavenmarkt mitgenommen hatte.

Sie hätte nie zu hoffen gewagt, dass sie an wen geriet, der sich um ihr Wohlergehen sorgte oder jemanden, für den sie Liebe empfinden konnte.

Tief in ihre eigenen Gedanken versunken, merkte sie gar nicht, dass Marcus hinter sie trat. Erst als er seine Arme um ihre Taille schlang, wurde sie sich seiner Gegenwart bewusst.

„Woran denkst du", fragte er und sie konnte seinen warmen Atem an ihrem Ohr spüren. Kiana berührte mit einer Hand sein Gesicht, ohne jedoch den Blick von den Bäumen abzuwenden. Für einen Moment genoss sie seine Nähe, ehe sie antwortete.

„An meine Familie."

Marcus seufzte und küsste ihre Schläfe.

„Kiana, du musst endlich loslassen. Es bringt dir nichts, ewig deiner Vergangenheit hinterher zu trauern. Ich bin jetzt deine Familie."

„Ich weiß, Herr, ich vermisse sie nur so schrecklich", flüsterte sie und wie jedes Mal, wenn die Trauer sie übermannte, spürte sie, wie sich Tränen in ihren Augen bildeten und sie zu zittern begann.

Römische Verhältnisse - Die Diener RomsOnde histórias criam vida. Descubra agora