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„Hilfe, Aramis, Hilfe!", schrie sie. „Weiche zurück, o grausamer Drache, weiche zurück vor Aramis, dem grössten Musketier aller Zeiten. Lass die Königin in Frieden." Mit einem Holzstock fuchtelte der Siebenjährige vor einem aufgehängten Tuch herum. „Keine Angst, Königin, ich werde dich wohlbehalten zum König bringen."

„Es heisst Euch. Ich werde Euch wohlbehalten zum König bringen; nicht dich", sagte das Mädchen in belehrendem Ton. Trotzig stampfte Aramis mit dem nackten Fuss auf die trockene Erde. „Ich will spielen und nicht Wörter lernen!"

„Aber ich will richtig spielen! Und wenn ich einmal gross bin und nicht mehr Anne, sondern Königin Anne heisse, kannst du auch nicht mehr du zu mir sagen!"

„Du, du, du, du", schrie der Kleine und hopste um seine Freundin herum. „Du bist doof", maulte diese. „Wollen wir jetzt weiterspielen?" Aramis bejahte und setzte das Stock-Herumfuchteln und edelmütige Redeschwingen fort, während Anne die verängstigte Königin spielte.

Mathilde verfolgte das Spiel der Kinder durch das Fenster. Es tat sich das Übliche im Garten; das Lieblingsrollenspiel der Kinder war in vollem Gange. Aramis stellte mit geschwollener Brust den Ritter zur Schau, während Anne um Hilfe schrie. Als Nächstes würde er das Ungeheuer besiegen — welches es auch immer dieses Mal war — und Anne wohlbehalten zum König zurückführen. Der König — die Vogelscheuche — würde Aramis darauf einen Orden verleihen und ihn zum obersten Musketier ernennen.

Ein Seufzer entschlüpfte der Amme. Anne wusste, dass sie dem König versprochen war, das schon lange vor ihrer Geburt, aber begreifen konnte es das kleine Mädchen nicht. Dafür war sie noch zu jung. Die Erkenntnis, dass sie einen Mann heiraten würde, den sie nicht kannte und dass ihr jegliche Liebe eines anderen verwehrt bliebe, würde sie erst später treffen. Dann jedoch vielleicht umso stärker.

„Wenn ich Königin bin, sorge ich dafür, dass alle Tiere keinen Hunger haben müssen", erklärte Anne, während sie und Aramis die Kaninchen mit Löwenzahn fütterten.

Mathilde lächelte schwermütig. Annes Traum selbst Entscheidungen zu fällen würde mit dem Tag platzen, an dem sie den Königshof betreten musste. Etwas zu sagen hatte der König und seine Ratgeber, aber die Aufgabe der Königin bestand allein darin, dem Reich einen Thronerben zu schenken, neben dem König schön auszusehen und ihn, gleichgültig in welchen Angelegenheiten, uneingeschränkt zu unterstützen.

Doch auch das, würde die junge Königin erst in einigen Jahren erfahren. Erst einmal sollte ihr der Glaube an eine eigene Zukunft erhalten bleiben. Und Mathilde betete, dass nicht sie die Person sein musste, die Anne, wenn es so weit war, über die Umstände ihres Lebens aufklären musste. Es würde ihr das Herz brechen.

Das Leben einer KöniginWhere stories live. Discover now