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Geniesserisch sog sie den Duft einer weissen Rose ein. Anne hielt die Augen geschlossen und konzentrierte sich ganz auf ihren Geruchssinn. Sie konnte fühlen, wie der Rosenduft sie umschloss und sie seinem Zauber verfiel. Sie sah Bilder von den schönsten Rosenbüschen, deren Blattgrün ein Kontrast zu den roten und weissen Blütenblättern bildete. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Sie fühlte den Lufthauch, der mit ihr spielen wollte, ihr an den Strähnen zupfte und sachte über den Nacken strich. In ihrem Geiste sah sie sich selbst, wie sie die Arme ausbreitete und zwischen den meterhohen Rosen hindurch lief. Der rosafarbene Stoff ihres weiten Kleides wehte hinter ihr her. Sie fühlte sich frei wie ein Vogel auf seinem ersten Flug. Frei und bereit diese wunderschöne Welt zu entdecken.

Eine rasche Bewegung zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie drosselte ihre Schritte und schlich auf leisen Sohlen weiter. Eine Gestallt sass zwischen den Blumen. Anne wagte sich noch ein Stück näher. Die Gestallt summte ein Lied, eine fröhliche Melodie und sie verspürte augenblicklich den Wunsch sich zu dieser Melodie zu bewegen. Tanzen, ja das wollte sie. Doch sie traute sich nicht, denn sie fürchtete, dass die Melodie ein jähes Ende nehmen würde, falls der Musiker sie entdeckte.

Bei genauerem Hinsehen stellte Anne fest, dass es gar kein Musiker war, der diese Melodie erfand. Es war ein einfacher Soldat. Ein Soldat, dessen Hinterkopf ihr seltsam vertraut war. Das dunkle, zerzauste Haar, der kleine Wirbel hinter seinem linken Ohr. Er war kaum auszumachen, dieser Wirbel in den Locken, und doch erkannte sie ihn im ersten Moment. Anne hatte ihn entdeckt in ihrem siebten Lebensjahr. Beim Spielen, als Aramis sich den Kopf gestossen hatte und sie seine Wunde mühselig mit einem langen Verband eingewickelt hatte.

Sie musste lächeln, bei der Erinnerung, wie der weite Verband sich immer um ihre Handgelenke geschlungen hatte. Immer um ihre Handgelenke und nie um Aramis' Kopf, wo der Verband eigentlich hin hätte sollen. Mathilde, die Zofe, hatte ihr zur Hilfe eilen müssen und das Verarzten abgeschlossen, während Anne den Wirbel genauer unter die Luppe genommen hatte. „Ein Sturm", hatte ihr Urteil gelautet. „So ein Sturm, der Kühe und Häuser herumträgt." Mathilde hatte ihr über die Haare gestrichen. „Ein Wirbelsturm, Schätzchen." Die junge Anne hatte sich aus ihrer Liebkosung gelöst, da ihr die Belehrung nicht gefiel.

„Aramis", hauchte sie, doch der Wind trug ihre Worte davon, ohne dass der Soldat sie vernahm. Er trällerte die Melodie weiter ohne von seiner Beobachterin Kenntnis zu nehmen. Auf leisen Sohlen schlich sich diese näher an ihn heran. Sein Profil wollte sie sehen. Die gerade Nase, die singenden Lippen, die grauen Augen, die sie so vermisste.

Ein Ast knackste unter ihrem Schuh. Wie angewurzelt blieb sie stehen, während der Soldat zu ihr herumschoss. Er musterte sie für einen Buchteil der Sekunde mit geweiteten Pupillen, dann erkannte er Anne. Lautlos formten seine Lippen ihren Namen.

„Anne!", zerriss eine schneidende Stimme die Illusion. Eine Stimme, die eindeutig nicht Aramis gehörte. Schreckhaft riss die Königin die Augen auf und blickte zu ihrem Gemahl empor. „Meine Liebe, was treiben Sie hier alleine im Garten?", fragte er sorgenvoll. „Ich habe lediglich ein bisschen Zerstreuung gesucht, mein König", antwortete Anne und neigte den Kopf, wie es sich gehörte. „Dann wird es Ihnen wohl nichts ausmachen, wenn ich Sie auf ihrem Spaziergang ein Weilchen begleite?" Anne rang sich ein Lächeln ab. „Natürlich nicht."

Schweigend schlenderte das königliche Paar durch das Kunstwerk aus Blumen, Sträuchern und Bäumen. Mit jedem Schritt fiel ein Teil der Nervosität von Anne ab und sie entspannte sich zunehmend. Sie drehte sich ihrem Gemahl zu. Auch er besass gleichmässige Gesichtszüge, wenn auch eine gewisse Strenge seine Augenpartie umgab, die bei Aramis nicht vorhanden war.

„Habe ich noch Resten des Essens im Gesicht", grinste der gleichaltrige König schelmisch. „Nein, das nicht", meinte Anne und wandte sich rasch wieder ab. „Wissen Sie eigentlich, wie schön Sie sind?", fragte er, sein Tonfall schon fast wieder nüchtern. Die Wangen der Königin überzogen sich mit einem Hauch rot. Aramis hatte sie manchmal schön genannt, doch da waren sie noch Kinder gewesen. Nichtsahnende Kinder, die von Schönheit und Liebe nichts verstanden. Sie schüttelte den Kopf.

„Sie sind das schönste Geschöpf, an dem ich meine Augen weiden durfte", beteuerte der König und trat näher an seine Frau heran. Anne atmete schneller, das enge Mieder liess ihr kaum Luft. Ein Lächeln legte sich auf die Lippen des Herrschers über Frankreich, ehe sie die seiner Frau trafen.

Die Lippen fühlten sich warm an, genauso wie es die Zofen beschrieben hatte, die Anne einmal belauscht hatte. Und obwohl es die Zofe als das Gefühl aller Gefühle beschrieben hatte, fühlte es sich fremd an. Als wäre es nicht sie, die soeben geküsst wurde. Es fühlte sich nicht richtig an.

Energisch versuchte Anne den König wegzustossen, doch ihre zierliche Statur verfügte nicht über die notwendige Kraft. Erst als sie ihm auf die Lippen biss, löste er sich von ihr. „Entschuldigt, Majestät", stotterte Anne. „Was war das?", stiess der König aus, sich die blutende Lippe an der Hand abwischend. Er hielt seine Stimme leise und doch konnte Anne die Wut dahinter spüren. „Ich bin noch nicht bereit", stammelte Anne hilflos. Louis nickte. „Ich werde warten." Er entfernte sich mit zügigen Schritten in Richtung des Schlosseinganges.

Anne liess sich auf die nächste Bank sinken, verfluchte sich für ihre Reaktion und für ihren Wunsch zu wissen, wie sich Aramis' Lippen auf ihren anfühlen würden.

Das Leben einer KöniginWhere stories live. Discover now