1617

7.9K 632 22
                                    

Er kämpfte sich hoch, nur um einen weiteren Schlag einzustecken. Sein Körper flehte, dass es aufhören möge, doch er sagte nichts. Er rappelte sich hoch, kassierte eine weitere Faust, erhob sich wieder. Sagte nichts, wehrte sich nicht. Er betete, dass es ein Ende haben möge, aber das Spiel ging weiter. Ein Schlag, umfallen, aufrappeln, Schlag, umfallen, aufrappeln. Und dann das erlösende „Es reicht für heute" und die niederschmetternde Erkenntnis, dass es morgen erneut beginnen würde.

Als er in die Armee einberufen worden war, hatte er sich nicht vorstellen können, welche Qualen er würde erleiden müssen. Er hatte nicht erwartet, dass er lernen müsste, Leid zu ertragen, sich schlagen zu lassen ohne sich zu wehren oder zu flehen, es möge aufhören. Und trotzdem ertrug er es immer. Er begann nicht zu schreien wie einige Rekruten es taten oder zu weinen wie andere. Er ertrug den Schmerz, weil es nichts war im Vergleich zu dem Schmerz, den er empfand, weil seine Anne nicht bei ihm war.

Er schüttelte den Kopf. Sie war nicht mehr seine Anne. Sie war die Anne des Königs. Verheiratet und offenbar auch glücklich, wie es die Boten vor bald zwei Jahren verkündet hatten. Er verscheuchte den Gedanken. Er durfte nicht an Anne denken, sonst würde er wirklich noch weinen. Und weinen kam überhaupt nicht in Frage vor all diesen Fremden, die ausgebildete Soldaten waren oder noch werden würden.

„Hey du, willst du dich zu uns setzten? Du siehst nicht gut aus. Foltertraining, was?" Aramis sah sich um. Ein paar Soldaten sassen nicht weit von ihm entfernt und winkten ihn zu sich. Überrascht ging er näher und liess sich auf den leeren Stuhl fallen. Noch nie hatte einer der Soldaten mit ihm geredet. Hier wurden im Allgemeinen keine Freundschaften geschlossen, aber diese Männer hier hatten es sich wohl anders überlegt.

Er bejahte die Frage mit einem Kopfnicken. „Hast du geweint?", fragte der Gesprächige wieder. „Nein." Diese Freude würde er dem Vorgesetzten nicht gönnen. „Geschrien?", bohrte der Fremde weiter. Er verneinte ein weiteres Mal. „Sonst irgendwie um Gnade gefleht?", fragte nun der Gegenübersitzende. „Nein." Es gab nur eine Person auf dieser Welt, die ihn dazu bringen konnte, sich im Schlamm zu finden und zu flehen.

„Dich gewehrt?" Um dann noch länger getriezt zu werden? „Nein, aber das hätte ich wahnsinnig gerne." Der Erste der beiden nickte.

„Du gefällst mir, Junge, du hast Mut, aber du kannst dich beherrschen. Was meinst du, Porthos, nehmen wir ihn unter unsere Fittiche?" Der andere - offenbar Porthos - grunzte unverständlich. „Ich weiss nicht", brummte er. „Hmm..." Beide dachten nach. Aramis wollte schon einwenden, dass er weder Aufpasser noch Freunde brauchte und dass er gut auf sicher selber aufpassen konnte, als Porthos nickte und ihm eine grosse Pranke entgegen streckte.

„Porthos, seit eineinhalb Jahren in der Armee", stellte er sich vor. „Aramis, zwei Monate." Er packte die von Hornhaut überzogene Hand mit seiner eigenen. Die aufgerissenen Stellen und Schwielen brannten unter dem festen Händedruck. „Und ich", sagte der, der ihn herangewinkt hatte, „heisse Athos. Ich bin vor etwas mehr als einem Jahr eingetreten."

Schweigen legte sich über den Tisch. Keiner wusste recht, was sagen. Athos durchbrach als erster sie Stille. „Du bist jünger als wir anderen. Weshalb bist zu frühzeitig zur Armee gekommen? Du hättest doch noch ein, zwei oder sogar drei Jahre das Leben geniessen können." Eine nachvollziehbare, wenn auch sehr persönliche Frage. „Ich hatte nichts mehr, was mich davon abgehalten hätte." Porthos schnaubte. „Dir sind wohl die Hühner weggestorben, was?" Verwirrt blinzelte Aramis. Was sollte das nun?

Athos flüsterte ihm leise zu, dass Porthos' Eltern schon gestorben waren, als er noch klein gewesen war und er deshalb auf jeden so reagierte, der behauptete nichts mehr zu haben. Aramis nickte, wieder nicht wissend, was er jetzt sagen sollte. „Also?", ermunterte ihn Athos und lächelte ihn warm an. „Es war nichts."

„Oh, oh", meinte Athos grinsend, „dieses nichts kennen wir doch alle. Wie heisst sie denn?" Obwohl er sein wohlbehütetes Geheimnis am liebsten für sich behalten hätte, fühlte Aramis sich dem Gegenüber verpflichtet, die Wahrheit zu offenbaren. Immerhin hatte der ihn freundlich behandelt. „Anne", flüsterte er tonlos. „Anne. Wie die Königin Anne?", bohrte Athos nach.

Ein Schuss ins Schwarze. Jetzt wurde es Aramis zu viel. Er stand auf und ging zum Ausgang des Zeltes. Er hörte nicht mehr, wie Athos bedeutend die Luft einsog und leise murrte: „Die Königin. Der will uns wohl verscheissern."

Das Leben einer KöniginWhere stories live. Discover now