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Anne brütete über ihren Notizen. Sorgfältig hatte sie alle Informationen über die Ratsmitglieder und die Ratssitzungen zusammengetragen, die ihr zu Ohren gekommen waren. Sie suchte nach Schwächen, nach Schlupflöchern mit Hilfe derer sie ihren Sohn zurückgewinnen konnte.

Eben gerade tüftelte sie an einem Plan, wie sie den Ratsherrn mit den fleischigen Wangen und der schiefsitzenden Perücke in einem mitfühlenden Gespräch über den frühzeitigen Tod seines Sohnes im Krieg auf ihre Seite ziehen konnte. Vielleicht sollte sie ihm aber auch einfach einen Teller deliziöser Schmausereien bringen lassen.

Ein sachtes Klopfen an der Türe liess die Königin hochschrecken. Misstrauisch erhob sie sich von ihrem kleinen Schreibtisch und begab sich zur Türe. Sie erwartete heute niemanden. Den lästigen Zofen hatte sie den Befehl erteilt sich einen Tag frei zunehmen. Diesem Befehl waren die Zofen natürlich nur zu gern nachgekommen.

Mit dem festen Entschluss jeglichen Beratern, Vertretern oder sonstigen Hofleuten die kalte Schulter zu zeigen, öffnete Anne die Türe. Doch davor stand entgegen ihren pessimistischen Erwartungen keine Nerven strapazierende Hofgaukler, sondern Aramis und d'Artagnan persönlich.

In den ersten Paar Sekunden starrte Anne den Liebsten ihrer einzigen Freundin einfach nur an. Dann fiel sie ihm stürmisch um den Hals, obwohl sich das für ihr Amt einer Königin nicht gehörte. „D'Artagnan!", begrüsste sie ihn aufgewühlt. „Du warst so lange weg, Constance auch. Wo ist sie? Wie hast du sie gefunden? Und wo? Ich bin so froh, dass du wieder da bist", sprudelte es aus ihr heraus.

Aramis schüttelte kaum merklich das Haupt. Erst jetzt bemerkte Anne den niedergeschlagenen Ausdruck in d'Artagnans Augen, die dicken Ringe unter seinen Augen und die ausgemergelten Wangen. Ihre Hoffnung und Freude verpuffte in Sekundenschnelle. Wie konnte es sein, dass Constance auf der ganzen Welt nicht aufzufinden war?

„Ich habe so lange gesucht", murmelte d'Artagnan abwesend und sein Freund manövrierte ihn zu einem Stuhl, auf dem er sich niederlassen konnte. Kraftlos liess der ehemalig so lebensfrohe Musketier sich führen. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als er zu erzählen begann.

„So lange irrte ich umher. Ich kann nicht mehr. Ich suchte in allen noch so kleinen Winkeln der mir bekannten Welt. Ich habe sie tausenden von Menschen bis ins Detail beschrieben, doch keiner erinnerte sich an eine Frau, auf die meine Beschreibung passte. Schliesslich habe meine lächerlichen Ersparnisse zusammengeworfen und sie gemäss meinen Erinnerungen von einem angesehenen Künstler portraitieren lassen. Ich eilte umher und hielt jedem das Gemälde unter die Nase, doch auch so stellte sich kein Erfolg ein. Niemand erkannte ihr liebliches Antlitz."

Tränen glitzerten in seinen Augen und er brauchte ein paar Minuten der Stille, um sich wieder zu fangen und weitererzählen zu können. Anne wünschte sich nichts mehr, als ihn und sich selbst von den Qualen befreien zu können, die Constances Abwesenheit ihnen bereitete.

„Nicht die kleinste Spur vermochte ich ausfindig zu machen. Nicht die geringste!" Er atmete tief durch. „Und dann traf ich ein altes Weib. Ich erinnere mich noch genau. Der Abend war kühl und doch drückte er Himmel schwer auf meine Schultern. Ich versuchte mein Glück in einem kleinen Dorf, doch statt Constance begegnete ich einem Weib mit kleinen Kristallen im Haar, das behauptete die Zukunft in Teeblättern lesen zu können. Sie versprach mir vorherzusagen, wo ich meine liebste Constance wiederfinden würde, wenn ich ihr im Austausch das gefertigte Portrait schenken würde.

Verzweifelt wie ich war, willigte ich ein. Das Weib führte mich in ihre Stube, in der ein süsser Duft meine Sinne vernebelte. Die Alte murmelte und sang in einer mir unbekannten Sprache und kochte Wasser für ihren Wundertee auf. Letztendlich prophezeite sie mir, dass ich meine Liebste ausgerechnet in Paris selbst finden würde.

Ich trieb mein treues Pferd zu Höchstleistungen an, sodass es in Paris angekommen kaum mehr stehen konnte. In den letzten Wochen bin ich dann durch jeden Teil von Paris gestreift. Ich habe ihren Namen gerufen, bis meine Stimme mich im Stich liess und nicht mehr als ein leises Wispern über meine Lippen drang. Doch auf keinen meiner Rufe erhielt ich eine Antwort. Nicht auf einen einzigen.

Wäre Constance in dieser Stadt, hätte sie mich doch gehört. Sie hätte meine verzweifelten Schreie vernommen und wäre zu mir geeilt. Das hätte sie doch getan; wieso sollte sie sich auch vor mir verstecken? Dass sie mir nicht geantwortet hat, kann nur bedeuten, dass sie sich nicht in Paris befindet. Aber auch in Frankreich und über die Grenzen des Reichs hinaus gab es keine Spur von ihr. Wie sollte das möglich sein, wenn sie noch lebte? Wie kann ihr Verschwinden etwas anderes als ihren Tod bedeuten?"

Anne taumelte langsam zurück. Seine letzten Worte dröhnten in ihren Ohren. Wie kann ihr Verschwinden etwas anderes als ihren Tod bedeuten? Sie wollte ihm nicht glauben, doch das Gerüst ihrer Hoffnung bröckelte. „Du glaubst nicht, dass sie noch am Leben ist?", versicherte sie sich tonlos.

„Ich weiss es nicht", gab d'Artagnan zurück. Das Leben war aus seinen Augen gewichen, die Hoffnung aus seinem Herzen. Und zurückgeblieben war nichts als ein gebrochener Mann, dessen Verlust ihn langsam aber sicher zerstörte.

„Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben, mein Freund", redete Aramis auf ihn ein. „Wenn du aufgibst; wenn du aufhörst nach ihr zu suchen, wirst du sie niemals finden. Und während du zweifelst, glaube ich noch immer fest, dass Constance am Leben ist und auch dass du sie aufspüren wirst."

„Aber", unterbrach ihn d'Artagnan hilflos. „Nein, nichts aber", fuhr Aramis ihn an. „Du hast mich stets gelehrt, dass ich niemals aufgeben sollte. Dass ich kein Hindernis zwischen mich und meine Liebe kommen lassen sollte. Und ich habe deinen Ratschlag befolgt. Nun bitte ich dich das Gleiche zu tun."

„Ich weiss nicht, wo ich noch suchen soll", gestand d'Artagnan seinem Freund. „Meine Königin", wandte er sich an die starre Anne. „Sagt mir, ist Constance noch am Leben? Ihr seid die Königin und ihre Freundin, Euer Vertrauen in ihr Überleben könnte auch mir wieder Hoffnung schenken. Bitte, sprecht und sagt mir, was ich tun soll", flehte er.

Anne wusste nicht, was sie ihm antworten sollte. Sie wusste doch auch nicht, was sie glauben sollte. Wie sollte sie ihm Hoffnung schenken, wenn möglicherweise seine Suche doch schon seit Jahren vergebens war? Wie konnte sie ihm das antun? Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie beide damit abschliessen würden. Wenn sie seinem Suchen ein Ende setzte.

Doch sie konnte es nicht. Sie konnte den letzten Funken Hoffnung nicht zerstören. Und sie konnte sich selbst nicht die letzte Möglichkeit rauben, Constance je wieder zu sehen. „Paris ist gross. Die Wahrscheinlichkeit, dass du und Constance zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort verweilt habt, ist klein."

„Ich danke Euch." D'Artagnan verbeugte sich formell und machte sich auf schwachen Beinen auf den Weg, um die Stadt von neuem zu durchkämmen. „Du hast das Richtige getan", flüsterte Aramis seiner Liebsten zu. „Er wird sie finden." Anne kauerte sich auf die frischen Laken ihres Bettes, während Aramis seinem Freund nacheilte. „Das hoffe ich. Das hoffe ich so sehr."

Das Leben einer KöniginWhere stories live. Discover now