34.

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Nervös kratze ich an dem Pfeiler vor unserer Einfahrt herum.

Ich stehe jetzt schon seit bestimmt zwanzig Minuten hier und bewege mich nicht von der Stelle. Es ist ein wirklich milder Winter, sodass ich trotz meiner dünnen Jacke nicht friere. Jordan steht die ganze Zeit hinter mir und lässt mir alle Zeit der Welt. „Vielleicht ist es doch nicht so eine gute Idee", murmele ich und will mich umdrehen, doch meine Freundin hält mich auf. „Hey, es wird alles gut", flüstert sie und lächelt mir aufmunternd zu. Ich nicke und nehme meinen ganzen Mut zusammen. Dann laufe ich mit festen Schritten zur Haustür und drehe den Schlüssel im Schloss.

„Michael, bist du es?", ertönt die Stimme meiner Mutter aus ihrem Büro. Als ich nicht antworte, höre ich sie aufstehen und in den Flur kommen. Als sie mich sieht, werden ihre Augen ganz groß und sie schmeißt die Akten aus ihrer Hand. „Zum Glück geht es dir gut", sagt sie und zieht mich in eine feste Umarmung. Ich habe mit vielem gerechnet, aber sicher nicht mit so einer Begrüßung. Tränen sammeln sich in meinen Augen und ich lehne mich in die Arme meiner Mutter. „Es tut mir leid", schluchze ich, doch meine Mutter streichelt meinen Rücken und schüttelt den Kopf. „Du hast nichts falsch gemacht." Ihre Worte berühren mein Herz so sehr, dass ich am ganzen Körper Gänsehaut bekomme. Ich löse mich von meiner Mutter und versuche meine Emotionen wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Geht es dir gut?", fragt meine Mutter und ich nicke.

Dann erst bemerkt sie Jordan im Türrahmen stehen und mustert sie. „Ich muss mich vor allem bei dir entschuldigen", sagt sie dann und in Jordans Gesicht steht deutliche Verblüffung. „Michelle war meine beste Freundin, sie war immer die beste von uns. Du bist ihre Tochter und ich hätte auf dich aufpassen müssen. Wir haben immer gedacht, dass wir alles in unserer Macht Stehende getan hätten, um dir und deiner Schwester zu helfen. Megan wollte unser Geld nicht, aber wir dachten, dass es das Einzige wäre, was wir geben könnten. Dabei hätten wir euch eine Familie schenken können." Ich kann genau erkennen, dass Jordan diese Worte nicht kalt lassen, auch wenn sie versucht es so wirken zu lassen. Meine Tränen habe ich mittlerweile abgewischt und räuspere mich: „Wollen wir uns vielleicht hinsetzen?" Meine Mutter nickt gleich und geht vor in unser Wohnzimmer.

Ich greife nach Jordans Hand und sie krallt sich sofort fest daran. „Es ist alles gut, du musst nicht hier bleiben", flüstere ich. Sie blickt nachdenklich auf eines von unseren Familienfotos und meint dann: „Doch, ich will es hören." Also folgen wir meiner Mutter und setzen uns ihr gegenüber auf unser Sofa. Nachdem uns etwas zu trinken gebracht wurde, beginnt meine Mutter zu erzählen: „In der Schulzeit waren Michelle und ich unzertrennlich. Wir waren wie Jane und Lynn, die beliebtesten Mädchen der Schule und ziemlich von uns überzeugt. Irgendwann hat sie allerdings einen Mann kennengelernt aus einer anderen Stadt. Er war nicht wie wir, kam nicht aus reichem Elternhaus. Allerdings war er sehr intelligent und Michelle verliebte sich Hals über Kopf. Ich habe nicht verstanden, was sie an ihm fand und wir haben gestritten. Schließlich ist sie schwanger geworden und wir haben immer weniger miteinander zu tun gehabt. In der Nacht ihres Unfalls ist für mich meine ganze Welt zusammengebrochen."

Meine Mutter schluckt gefasst, so sentimental habe ich sie selten erlebt. Eigentlich zeigt sie nie wirklich Emotionen, weil sie ihr Image als taffe Geschäftsfrau stets aufrecht erhalten will. Dann trinkt sie einen Schluck Tee und fährt fort: „Mir ist klar geworden, dass ich unsere Freundschaft zerstört habe, nur weil ich deinen Vater nicht respektiert habe." Sie blickt Jordan an, welche ziemlich nervös aussieht. „Als ich dich mit Jane gesehen habe, hat mich alles an ihn erinnert. Du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Er war ein Schönling, ein Rebell, jemand, der jedes Mädchen bekommt. Es hat einen Schalter bei mir umgelegt und ich hatte sofort den Drang, Jane vor dir zu beschützen." Jordan spielt an ihren Ringen herum und ich berühre mit meinem Bein ihres, um sie zu beruhigen. „Ich habe schon vor Janes Geständnis gemerkt, dass sie verliebt ist. Gott, ich war auch mal jung. Sie hat die PSA gehasst und plötzlich bringt sie ein Mädchen heim, das überall Tattoos hat und die Kunst förmlich im Gesicht trägt?"

Ich werde rot, weil ich nicht geahnt hatte, wie offensichtlich meine Gefühle gewesen waren. Meine Mutter redet weiter, bevor ich irgendetwas sagen kann: „Aber als sie an diesem Abend vor allen zugegeben hat, dass sie dich mag, habe ich sofort gewusst, was ich tun muss. Ich werde den gleichen Fehler nicht nochmal machen. Dein Vater war das Beste, was Michelle in ihrem Leben passieren konnte. Ich habe es nur zu spät verstanden." Sie seufzt und sieht Jordan wieder direkt in die Augen: „Wenn du irgendwann bereit dazu bist, hast du hier eine Familie. Das gleiche gilt für Megan."

Verblüfft sehe ich meine Mutter an, das waren viele Informationen. Jordans Hände zittern leicht und ich sehe, dass ihre Augen glasig sind. Ihr Blick schießt zu mir und ich lege meine Hand auf ihre. Ich schenke ihr ein kleines Lächeln, was scheinbar ihre Dämme bricht. Tränen laufen über ihre Wangen und sie bringt nur ein „Danke" heraus. Ich ziehe sie in meine Arme und streichele ihren Rücken. Dabei sehe ich zu meiner Mutter und sage ihr mit meinem Blick, wie dankbar ich ihr bin. Ich war früher immer stolz Teil meiner Familie zu sein aufgrund ihres Geldes, doch das ist nicht vergleichbar mit dem Stolz, den ich gerade empfinde. Meine Mutter nickt mir zu und steht dann auf: „Ich werde erstmal weiter arbeiten, ich würde mich freuen, wenn ihr zum Essen bleibt." Als meine Mutter weg ist, löst sich Jordan von mir und wischt sich ihre Tränen weg. „Alles okay?", frage ich vorsichtig und sie nickt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was in ihr vorgehen muss. Vorhin hatte ich noch gedacht, dass der Tag für mich schwer werden würde. Nie hätte ich erwartet, dass meine Mutter so verständnisvoll ist.

In Jordans Augen sehe ich einen Schimmer, den ich vorher noch nie bemerkt habe.

Hoffnung.

The girl from the other sideWhere stories live. Discover now