Kapitel 2 Sehen

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Kapitel 2 Sehen

„Tape 3: Das Vorgespräch mit Lee Yeng verlief unerwartet. Er löste in mir nicht kalkulierbare Emotionen aus. Erhöhter Herzschlag. Tiefe Scham. Panik durch Kontrollverlust.

Während des Gespräches konnte ich klar erkennen, dass er verdrängte Wünsche auf mich überträgt. Er selbst äußerte, dass eine auf mich gerichtete Scham ihn blockiere. Er sprach offen und erreichte mich. Löste etwas in mir aus. Während ich ihm vorschlug, die Sitzungen im Liegen zu durchlaufen, verlor ich plötzlich die Kontrolle über mich selbst. Eine enorme Angst stieg in mir auf. Sie zeigte sich in Form von Scham. Ich verspürte die Angst, ihn zu enttäuschen. Zu versagen.

Meine erste Einschätzung über Lee, er habe Versagensängste, übertrug sich auf mich selbst. Mein Körper zeigte alle physischen Auswirkungen der Angst. Verdeckt durch eine tiefe Scham, die mir heiß in den Körper fuhr. Meine Scham verschleierte meine Versagensangst. Das kann auch sein Abwehrmechanismus sein. Wir müssen darüber sprechen. Ermitteln, welcher Wunschtrieb dahinter steckt.

Ich spiegelte Lees Scham. Der Moment der Gegenübertragung. Aber ohne Kontrolle. Ich verlor die Kontrolle. Das habe ich nicht erwartet. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, während ich darüber spreche. Eine weitere körperliche Reaktion, die auf die Intensität hinweist. Wie kann das bei der ersten Begegnung passieren? Wir haben noch nicht mit den Sitzungen angefangen.

Lee reagierte sehr professionell auf mein Entgleisen. Er übernahm umgehend die Rolle des Therapeuten und verhalf mir zur bewussten Kontrolle, nachdem ich mich von meinen Affekten habe übermannen lassen. Auf sachlicher Ebene sprach er alle meine Angstpunkte an. Er bedankte sich über die Zusammenarbeit. Ich müsse keine Sorge haben, dass ich dem von ihm fantasierten Dan Rin nicht gerecht werde. Er verwies indirekt darauf, dass die Praxis erst noch in Entstehung sei. Ich solle mir vor Augen führen, dass es nicht schlimm sei, noch keine Liegemöglichkeit zu haben. Und mich dann über die zeitlichen Konditionen zu befragen, holte mich gänzlich wieder in meine bewusste Materie. Ja, Lee führte mich gezielt aus meiner tiefen Scham. Ein Moment der Gegenübertragung. Beeindruckend.

Ich sagte ihm, wir werden seiner Scham auf den Grund gehen. Den verdrängten Wunsch dahinter entdecken.

Auf diesen Prozess werde ich mich vorbereiten. Ich muss die ersten Erkenntnisse festhalten. Für die Forschung ist es wichtig, keine festgelegten Rollen während der Sitzungen zu bestimmen. Wir sind beide Therapeut und Patient. Auch wenn ich die Sitzungen leite, muss der Proband auf meine Gegenübertragung reagieren können. Sie wahrnehmen. Ob das bei allen 12 Probanden möglich ist, wird sich zeigen.

Lee bewies heute, dass er dazu in der Lage ist.

Dass er wahrnimmt.

Dass er mich sieht.

Nach nur 20 Minuten mit Lee entdecke ich enorme Emotionen in mir, die ich mit ihm gemeinsam erforschen möchte. Drei Sitzungen in der Woche. Montags um 10 Uhr, mittwochs um 14 Uhr, freitags um 18 Uhr.

Ich muss umgehend eine Therapiecouch bestellen. Nochmal darf ich mich nicht unvorbereitet fühlen", spricht Dan in sein Diktiergerät und starrt den Sessel an, auf dem Lee noch vor wenigen Minuten saß.

„Die Anlässe für Scham können sozialisations- und kulturbedingte Befindlichkeiten sein. Lee ließ mich direkt meine frühkindlichen kulturellen Wurzeln erinnern.

Mit 16 Jahren schickten mich meine Eltern nach Berlin, damit ich an der Humboldt-Universität Psychologie studieren kann. Auch wenn ich mit 16 Jahren nicht die gleichen Interessen und Bedürfnisse hatte wie typische Pubertierende, können aufgrund entwicklungspsychologischer Aspekte durchaus Spuren hinterblieben sein. Ich verließ mein Elternhaus, meine Heimat, meine Kultur, um in Deutschland in die Fußstapfen der größten Psychoanalytiker zu treten.

Riss Lee mit seiner Übertragung verdrängte Verlustängste in mir auf?

Selbst jetzt bei der Aufnahme merke ich physische Reaktionen in mir aufsteigen. Mein Herz und mein Magen ziehen sich zusammen.

Ein Kloß im Hals.

Tiefer will ich nicht graben. Nicht ohne Lee", beendet Dan die Aufnahme.

Er verweilt eine Weile in seinem Sessel und guckt sich seine Praxis an. Die kahlen Wände, das leere Bücherregal, der kleine Schreibtisch, die hellen Fenster, die Tür. Und sein Blick richtet sich von der Tür langsam wieder zu dem Sessel ihm gegenüber. Er sieht den japanischen Psychologiestudenten durch die Türschwelle treten und grazil auf den Sessel zulaufen.

Er blieb im Dunkeln bei jedem Schritt im hellen Raum.

Als bliebe er im Schatten.

Dan erinnert diesen Moment mit tief versunkenem Ausdruck im Gesicht.

'Ich kann dich sehen', sagt Dan innerlich zu dem erinnerten Lee.

Die Psychologie der LiebeWhere stories live. Discover now