Kapitel 6 Spiegeln

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Kapitel 6 Spiegeln

„12.11.2021, 11.50 Uhr, Lietzensee-Park: Erstes Analysegespräch mit Lee Yeng.

Die heutige Sitzung verlief 43 Minuten lang schweigsam. Während dieser Phase fand von Lee eine Übertragung statt. Ich nahm die Übertragung wahr. Sie spiegelte sich an mir.

Im Folgenden wird die Analyse in Form eines Dialoges stattfinden", spricht Dan in das Diktiergerät und legt das laufende Gerät in seine Brusttasche.

Lee guckt ihn mit großen Augen an. Er weiß nicht recht, wie er nun reagieren soll. Soll er überhaupt reagieren?

Dan sieht die Verunsicherung in Lees Augen und macht den ersten Schritt:

„Hier im Park gibt es sehr alte Bäume. Lass uns langsam schreiten und uns über unsere Gefühle austauschen. Richte deinen Blick auf die Bäume. Das wird helfen."

Lee nickt und schaut auf den See. Das Braun der zahlreichen blattlosen Bäume sowie das Grau des Himmels werden auf der Wasseroberfläche reflektiert.

Am anderen Ufer des schmalen Sees reihen sich Altbau-Häuser.

Mit verschnörkelter Fassade, im alten Stil.

Am Ufer wehen die Trauerweiden feine Wellen ins Wasser.

Lee ist vom Anblick der Trauerweiden gerührt.

Die höchsten Bäume reichen hoch bis zu den Dächern.

Die grauen Wolken bilden einen Kontrast zu den warmen Farben der Dächer.

Dan sieht Lees Blick und beschließt, wieder den Anfang zu wagen.

„Die wehenden Äste gehören der Trauerweide, die gibt es auch hier auf dieser Uferseite. Und da oben wohne ich", sagt Dan und zeigt mit dem Finger auf die Terrasse einer der von Lee eben bewunderten Altbau-Dächer.

Und er schafft es, Lee zu gewinnen.

„Da wohnst du? Dort oben? Mit dieser Aussicht?", ruft Lee, sichtlich aufgeregt.

Und Dan weiß jetzt, dass es richtig war, Lee in seinen inneren Kreis zu lassen.

Wie sollen sie sich sonst aufeinander einlassen können?

Er muss Lee etwas entgegenbringen, damit er sich darauf einlassen kann.

Er soll ihm vertrauen. Nicht nur als Therapeut.

„Mir wird gerade etwas Wichtiges bewusst, worüber wir sprechen müssen.", sagt Dan mit dem Kopf zur Brusttasche gerichtet.

Lee richtet wieder seinen Blick in die Landschaft.

„Lee, direkt bei unserem ersten Zusammentreffen wurde ich von tiefen Emotionen überwältigt. Ich stellte fest, dass du etwas auf mich überträgst. Ich war so überrascht, dass ich nicht in der Lage war, meine Gegenübertragung sinnvoll einzusetzen. Ich habe die Kontrolle verloren und du hast mich aufgefangen. Das war der Moment, wo ich beschloss, diese neue Erkenntnis in das Forschungsvorhaben aufzunehmen. Die Sitzungen sind keine klassische Psychoanalyse. Wir werden nicht in feste Rollen starren.

Du bist Therapeut, und auch Patient.

Ich bin Therapeut, und auch Patient.

Die Intensität meiner Emotionen, die sich als Reaktion spiegelte, zeigte mir, dass ich mit dir zusammen in mir tiefer horchen muss.

Auch wenn uns das letzte Mal die Scham übermannte, in der heutigen Sitzung war es dein Widerstand.", sagt Dan, während er die Hände hinter seinem Rücken verschränkt und mit Lee am Ufer entlanggeht.

Die Psychologie der LiebeOnde histórias criam vida. Descubra agora