Kapitel 3 Vergleichen

520 42 11
                                    

Kapitel 3     Vergleichen

Dan steht auf der Terrasse seiner Dachgeschosswohnung am Lietzenseeufer 6 in Berlin Charlottenburg. Er schaut auf die zahlreichen alten Bäume im Lietzensee-Park.

Auch wenn der Berliner Winter kalt und nass ist, alles grau und trüb erscheint, beruhigen Dan die zahlreichen Laubbäume in ihrer alten, großen und stabilen Statur. Die am Ufer angereihten Trauerweiden wehen stoisch im Wind.

Auf dem großen Spielplatz toben selbst bei Minusgraden fröhliche Kinder umher.

Dan erinnert sich daran, wie erstaunt er in den ersten Jahren in Deutschland war.

'Es gibt kein falsches Wetter, es gibt nur falsche Kleidung', heißt es bei Vollbluteltern. Ihre Kinder sollen täglich an die frische Luft und toben. Egal in welchem Alter.

Mit einem Lächeln im Gesicht erinnert sich Dan an seine Kindheit zurück.

Feste Regeln. Feste Normen. Feste Anforderungen.

Eine Erziehungskultur basierend auf die Lehren Konfuzius.

Bis zu seinem 6. Lebensjahr wurde er mit großer Nachsicht behandelt.

Verwöhnt. Als könne er seinen Verstand nicht leiten, überschüttete seine Mutter ihn mit überfürsorglicher und anhänglicher Aufmerksamkeit. Ihr Baby durfte nicht krank werden, nicht schmutzig werden, keiner möglichen Gefahr ausgesetzt werden.

Dan kannte es nicht anders, bis das Alter des Verstehens einsetzte.

Mit dem 7. Lebensjahr wurde die akademische Förderung anvisiert. Die Fürsorge bekam einen anderen Fokus. Die Liebe wurde ersetzt durch Disziplin.

Der Ernst des Lebens erlaubte keine freien Spiele, kein wildes Toben.

Und das Wetter war zu jeder Jahreszeit falsch.

Und so kam es, dass Dan nach den 6 Semestern im Studentenheim hier in diese Wohnung zog, weil ihn der Blick auf den Lietzensee, die Bäume und der Anblick der freien, glücklichen Kinder auf dem großen Spielplatz ein Gefühl der Ruhe übermittelte.

Und abends spaziert er gerne am Ufer entlang und schmiedet Pläne, diskutiert innerlich Thesen, genießt die Atmosphäre.

Und in manchen Momenten schaukelt er unbeschwert auf dem ihm so geliebten großen Spielplatz.

Das Schmunzeln auf Dans Gesicht weitet sich und mündet in ein Glucksen. Er schüttelt sich und guckt auf die Uhr.

Die Uhrzeit entreißt ihn endgültig aus seinen gedanklichen Ausschweifungen. Es ist 8.30 Uhr, Montag. Seine erste Sitzung ist mit Lee um 10 Uhr.

Lee.

Dan hält kurz inne und nickt ernst.

Seitdem er Lee letzten Dienstag sah, ist noch so viel passiert. Dan lernte in der Restwoche die weiteren 11 Studentinnen und Studenten kennen und richtete am Wochenende bis spät in die Nacht seine Praxis ein.

Außerdem besuchte er seinen Professor Dieckmann, seinen Doktorvater.

Ein Vater, seitdem er als Fremder an der Uni anfing.

Professor Dieckmann sah damals einen noch recht kleinen Taiwanesen fromm auf dem Campus stehen. Er hatte schon von dem genialen, 16 jährigen Studenten gehört, der alleine nach Deutschland gereist war, um Psychologie zu studieren. Er hatte in Taiwan seitdem er 8 Jahre alt, war Deutsch gelernt. Sich auf sein Studium vorbereitet.

Er sprach den jungen Dan an und schloss den großäugigen, wissbegierigen Studenten direkt in sein Herz. Lachend legte er dem stramm stehenden und höflich verbeugenden Dan die Arm um die Schulter und lud ihn auf einen Tee ein.

Die Psychologie der LiebeWhere stories live. Discover now