Kapitel 8 Supervision

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Kapitel 8  Supervision

„Lee Yeng, bitte warte kurz", ruft Professor Österreich nach der Vorlesung Lee hinterher.

Lee dreht sich um und lächelt seinen Professor an.

„Mich würde es interessieren, wie das Projekt gestartet ist. Hast du gleich noch eine Vorlesung? Können wir gemeinsam einen Tee trinken?", fragt Österreich.

Er hatte heute früh einen Anruf von seinem Freund Dieckmann. Er klang besorgt und fragte nach Lees Befinden. Beide tauschten sich über ihre genialen Studenten aus. Sprachen über das Forschungsvorhaben und beschlossen, beide intensiv zu supporten in diesen zwei Jahren.

„Ich habe die nächste Vorlesung erst nachmittags. Ich wollte die Zeit in der Bibliothek zum Lernen nutzen. Aber ein Tee hört sich sehr gut an", antwortet Lee freundlich.

„Sehr gut, dann lass uns in mein Büro.", antwortet Österreich und beginnt seine Materialien zusammen zu sammeln. Lee nimmt die Bücher vom Pult und läuft Professor Österreich hinterher.

Sie laufen durch das alte und imposante Humboldt-Gelände und gelangen schließlich in Österreichs Büro.

„Mach es dir gemütlich, ich mach uns einen Tee", hört Lee seinen Professor sagen. Er schaut sich um und entdeckt die große Linde, die aus dem Fenster zu sehen ist. Er läuft auf das Fenster zu und genießt den Anblick des schönen Baumes. Ein Lächeln umsäumt sein Gesicht. Die feinen, blattleeren Äste der Linde wirken wie die Adern um das menschliche Herz. Lee spürt sich lebendig, während er die Äste im Wind wehen sieht.

„Setz dich doch", bittet Österreich Lee, „Und wie findest du Dan Rin?"

Lee dreht sich zu Österreich, lächelt, läuft auf ihn zu und setzt sich ihm gegenüber an den großen Schreibtisch.

„Ich muss zugeben, dass ich am Anfang sehr überrascht war, dass er so jung ist und...", Lee sucht kurz nach den richtigen Worten und beschließt schließlich, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, „und so gut aussieht." Er lacht kurz auf und spricht weiter: „Sein Aussehen hat mich zunächst daran zweifeln lassen, dass er der Dan Rin ist, der all diese Abhandlungen geschrieben hat."

Österreich lacht auch.

„Er kam mit 16 Jahren nach Deutschland, um Psychologie zu studieren. In Taiwan hatte er mehrere Klassen übersprungen. Ein Überflieger. Es ist völlig verständlich, dass du gestaunt hast", sagt Österreich und schmunzelt. „Sein Aussehen hat dich also zweifeln lassen", fügt er hinzu.

„Schon etwas, aber ich bemerkte schnell seine überaus faszinierende Kompetenz. Er wirkt so ruhig und fokussiert. Er ist ein großartiger Therapeut. Er nimmt seine Umgebung bis ins kleinste Detail wahr und agiert mit Ruhe und Verstand. Ich fühle mich gut aufgehoben und angekommen. Und ich hoffe, dass ich ihm nützlich sein kann", erwidert Lee.

Österreich beobachtet seinen Zögling. Sein Freund Dieckmann hatte ihm besorgt berichtet, dass sie die beiden jungen Forschenden unterstützen sollten. Ihre kulturellen Wurzeln und die Migration nach Deutschland beeinflusse ihre Zusammenarbeit. Sie übertragen aufeinander verdrängte Gefühle, die eine schnelle Bindung bewirken und sie vielleicht zu stark beeinflussen könnten.

Professor Österreich sieht vor sich lediglich den Lee Yeng, den er schon seit Jahren sieht. Ein ruhiger und verschlossener, stets schwarz gekleideter junger Mann, der durch seine Höflichkeit einerseits und seine Intelligenz andererseits auffällt. Lees Verschlossenheit besorgte Österreich schon von Anfang an. Er wirkt in sich gefangen. Nur seine tiefen und überaus intelligenten Gedankengänge zu psychischen Prozessen ermöglichen einen Einblick in den scharfen Verstand in den stets im Schatten stehenden Studenten.

Jetzt aber kann Österreich nicht sehen, dass Lee sonderlich aufgewühlt ist. Er wirkt wohlauf. Bis auf den Vermerk, dass Dan Rins Attraktivität ihn überrascht hat, kann er keine weiteren Auffälligkeiten feststellen. Und auch diese Aussage wirkt nicht besonders auffällig. Dan Rin ist ein sehr attraktiver Mann. Die Studentinnen schwärmen von seinem Aussehen. Er kann sich vor den ihn umschwärmenden jungen Frauen kaum verstecken. Nicht, dass er das möchte. Er bewegt sich frei und blendet alle Flirtversuche aus. Keine Schönheit hat es bislang geschafft, an Dan Rin heran zu kommen. Sein gutes Aussehen ist an seinem brillanten Verstand verschwendet.

Dan Rin lebt für seine Bücher, seine Arbeit, seinen Verstand.

„Kannst du dich ihm öffnen?", fragt Österreich.

Lee überlegt kurz.

„Wir hatten bislang nur eine Sitzung. Auch wenn ich mich nach außen nicht öffnen konnte, löste er in mir unbewusste Emotionen aus. Ich öffnete mich mir selbst gegenüber", sagt Lee mit leiser Stimme. Seine Augen wirken nach innen gerichtet. Er versteckt sich im Schatten. In sich selbst.

„Das ist gut. Ich würde dir gerne anbieten, dir in diesem Prozess zur Seite zu stehen. Ich gebe dir meine private Handynummer. Bitte melde dich, wenn dir danach ist.", sagt Österreich in einem milden Ton.

Lees Katzenaugen lächeln freundlich.

„Das ist sehr nett, aber nicht notwendig. Mir geht es gut. Keine Sorge", antwortet er verlegen.

Österreich sieht Lees Verlegenheit und versucht ihn anders zu erreichen.

„Es ist auch mein akademisches Interesse. Das Forschungsprojekt ist sehr interessant. Dan hat auch einen Professor an seiner Seite, der in alle Vorgänge involviert wird. Professor Dieckmann ist Dans Doktorvater und guter Freund. Er supportet ihn in dieser Zeit. Jeder Therapeut benötigt eine Supervision. Bitte erweise mir die Ehre, dir zur Seite zu stehen", erklärt Österreich.

Lees Augen leuchten auf. Er steht auf und verbeugt sich.

„Vielen Dank für das Angebot. Ich fühle mich geehrt", sagt er.

Professor Österreich schmunzelt.

„Setz dich doch wieder. Lass uns den Tee trinken, bevor er kalt wird", sagt er liebevoll, „Und hier ist meine Nummer. Bitte zögere nicht, mich anzurufen. Wir sehen uns ja auch regelmäßig in den Vorlesungen. Vielleicht können wir einmal die Woche einen Tee trinken gemeinsam."

Lee nimmt die Visitenkarte entgegen und setzt sich wieder.

Tief in sich spürt er seine Aufregung aufsteigen.

Der gestrige Ausflug mit Dan ließ ihm keine Ruhe. Er lag neben seinen Bücherbergen in seiner Wohnung und erinnerte immer wieder jeden Moment des Tages.

Die Bilder des Lietzensee-Parks, Dans tiefe Stimme, der köstliche Geschmack der orientalischen Speise, die informativen und beeindruckenden Ausführungen über die Technische Universität Berlin, der aromatische Kaffee und Dans wiederholte Beharrlichkeit, ihn nach Hause fahren zu wollen, schwirrten in seinem Kopf herum und ließen ihn grinsend auf dem Boden liegen.

Die Freude, Dan morgen wiederzusehen, kann Lee nicht verdrängen. Sein Herz schlägt schneller bei der Vorstellung. Nur ist er Experte darin, seine Gefühle tief einzuschließen.

Und so sitzt er Professor Österreich lächelnd gegenüber und lässt sich seine Aufregung nicht anmerken.

Er trinkt seinen Tee und imaginiert Dans Gesicht.

Wie Dan lächelt.

Wie seine Augen sich aufgeregt vergrößern, wenn er ihm über die Hintergründe der Umgebung erzählt.

Wie tief sein Blick auf ihn wirkt.

Und Lee lächelt Österreich an, während er darüber sinniert, wie Dans großen Hände ihn morgen wieder wärmen werden.

Die Psychologie der LiebeWhere stories live. Discover now