4 | Ambrose McLaren

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Wie oft mussten die Leute einem sagen, dass man ein Monster war, bis man es zu glauben begann? Ambrose McLaren wusste es nicht. Was er jedoch wusste, war, dass er in seinem Stockbett im dunklen Zimmer lag, das er sich mit vier anderen Männern teilte, und die Strahlen des Mondes ansah, die durch das Fenster hineinfielen. Wenn das Mondlicht seine Haut traf, wäre das hier vorbei. Dann hätte er keine Überlebenschance mehr. Und die Leute um ihn herum wahrscheinlich auch nicht.

Seufzend überprüfte Ambrose das Handy, das er mit hineingeschmuggelt hatte. Es war in einer verzauberten Hülle, die ihm die Rebellen gegeben hatten, damit es vom Metalldetektor nicht erkannt wurde. Es gab viele Fabelwesen bei den Rebellen, aber selbst bei ihnen hatten sich die meisten von ihnen vor ihm gefürchtet. Ambrose konnte es ihnen nicht übelnehmen. Mit seinen breiten Schultern und den Narben auf seinem Rücken und seinen Oberarmen sah er wahrscheinlich bereits einschüchternd aus, wenn man nicht wusste, dass er sich bei der Berührung mit Mondlicht in ein Monster verwandelte.

Ein Monster.

Ambrose konnte nicht schlafen. Es überraschte ihn nicht. Er wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal geschlafen hatte. Er hoffte nur, dass niemand bemerken würde, dass er wachlag, Stunde um Stunde, und sich fragte, ob er das hier überleben würde. Zum Glück kamen Werwölfe mit wenig Schlaf aus.

Ambrose wusste noch immer nicht, weswegen die Rebellen ausgerechnet ihn ausgesucht hatten. Es hätte sicher viele Leute gegeben, die für diesen Job besser geeignet waren. Spätestens, wenn eine der Prüfungen in der Nacht stattfand, war er geliefert. Und er würde die ganze Rebellion mit sich in den Abgrund reißen.

Die Widerstandsbewegung gab es nun seit vier Jahren, vor zwei Jahren hatte sich Ambrose ihr angeschlossen. Damals hatte er gesagt, er würde alles tun, um König Baird aus dem Weg zu schaffen.

Er hatte nicht damit gerechnet, gezwungen zu werden, an einem solchen Auswahlverfahren teilzunehmen, wo sein Leben jeden Tag enden könnte. Und es war nicht der Tod, vor dem er sich fürchtete – es war die Schande. Die Schande, wenn die Menschen herausfanden, dass er ein Werwolf war und ihn als Monster betitelten, so, wie es alle sein Leben lang getan hatten.

Vielleicht hatten die Rebellen ihn deswegen hierhergeschickt. Vielleicht hatten sie ihn loswerden wollen.

Weil auch sie sich zu sehr vor ihm gefürchtet hatten.

Damals, als sich Ambrose der Rebellion anschloss, hatte er auf eine bessere Zukunft gehofft. Eine Zukunft, in der auch Werwölfe einen Platz in der Gesellschaft hatten. Er war idealistisch gewesen damals.

Mittlerweile bezweifelte er, dass es für ihn jemals möglich sein würde, ein normales Leben zu führen. Selbst wenn er den König umbrachte, würden ihn die Leute wahrscheinlich nicht als Held sehen, sondern nur als Mörder. Weil jemand wie er kein Held sein konnte. Werwölfe waren keine Helden. Werwölfe waren hinterlistig und aggressiv und opportunistisch.

Die Menschen würden sich immer vor ihm fürchten.

Aber es gab ohnehin keinen Weg mehr hier raus. Außer er hatte Erfolg.

Also würde er den König töten, koste es, was es wolle.

Und danach- Danach würde er sich irgendwo in die Berge zurückziehen, als einsamer Wolf, denn vielleicht war die Einsamkeit ja weniger schlimm, wenn man sich nicht unter anderen Menschen befand.

Und Ambrose McLaren war nicht dazu geschaffen, unter Menschen zu leben.

***

„Guten Morgen, Wolf."

Ambrose zog nur eine Augenbraue hoch und schaute den jungen Mann an, der gerade das Bad betreten hatte, während er sich die Zähne putzte. Im Gegensatz zu ihm sah er aus, als hätte er letzte Nacht genug geschlafen, nur seine blonden Haare waren ein wenig unordentlich.

„Sollte ich mich davon angesprochen fühlen?", fragte Ambrose und hoffte, dass er dabei unbeeindruckt klang, obwohl sein Herz viel zu schnell klopfte. War er wirklich aufgeflogen? Jetzt schon?

„Sag du's mir", sagte der Fremde. „Keine Angst, hier drin gibt es keine Kameras. Niemand hört dich. Nur ich."

Ambrose fuhr sich durch die dunklen Haare. „Warum soll ich dir glauben?"

„Weil ich dir jetzt ein Geheimnis verrate ..." Der Fremde senkte die Stimme. „Ich bin eine Fee."

„Erneut, warum soll ich dir glauben? Du würdest mir das nie so einfach sagen. Und ich bin kein Wolf. Ich weiß nicht, wie du auf die Idee kommst. Oder habe ich dir etwa die Kehle durchgebissen?"

„Vielleicht würde ich dir das so nicht sagen. Vielleicht schon. Aber warum sollte ich es vor Kameras sagen – außer es gibt hier keine Kameras oder ich bin lebensmüde."

„Ich glaube nicht, dass du eine Fee bist. Ich glaube, dass du verrückt bist", knurrte Ambrose.

Der Fremde kickte gegen die Badezimmertür, um sie zu schließen. „Es ist mir egal, ob du denkst, dass ich verrückt bin. Ich habe gesehen, wie du dich bewegst. Denkst du, du warst der Einzige, der letzte Nacht wach war? Ich habe gesehen, wie du das Mondlicht angestarrt hast. Ich habe eine gute Menschenkenntnis, Wolf."

„Eine gute Menschenkenntnis würde dir bei einem Wolf nicht viel bringen", konterte Ambrose sarkastisch.

„Ha-ha. Du bist wirklich witzig." Der Fremde stützte sich mit einer Hand am Spiegel ab, sodass er zwischen der Tür und Ambrose stand. „Aber mach lieber, was ich sage, sonst werde ich dich verpfeifen."

„Dann verpfeife ich dich, dass du eine Fee bist. Stimmt beides nicht."

„Dafür, dass ich eine Fee bin, gibt es keine Beweise. Bei dir reicht eine Nacht im Mondlicht."

„Du willst nicht wissen, wozu ich bei Mondlicht fähig bin."

„Du gibst es also zu?"

„Nein." Ambrose machte einen Schritt auf den Fremden zu. Er war nur wenige Zentimeter größer als der Fremde, aber es reichte, um auf ihn hinuntersehen zu können. „Ich brauche kein Mondlicht. Es gibt hier keine Kameras, hast du gesagt, oder?"

Der Fremde verzog keine Miene. „Vielleicht habe ich gelogen."

Es war zu spät. Ambrose' Faust landete in seinem Gesicht. Etwas knackte, Blut spritzte auf die weißen Badezimmerfliesen. Der Fremde stürzte nach hinten, versuchte sich am Waschbecken festzuhalten, aber es war vergeblich. Er ging zu Boden.

Dort blieb er jedoch nicht lange liegen. Innerhalb von Bruchteilen von Sekunden rappelte er sich wieder auf und stürzte sich auf Ambrose. Der Schwung riss den Werwolf nach hinten und er musste sich am Rand der Badewanne abstützen, um nicht zu fallen. Der erste Schlag seines Kontrahenten verfehlte ihn knapp, aber bevor Ambrose sich wegducken konnte, griff der Fremde erneut an und traf seine Nase.

Ambrose schmeckte Blut. Der Fremde hatte gar keine Zeit, zu reagieren, denn im nächsten Moment landeten die Hände des Werwolfs an seiner Kehle. Er drückte ihn gegen die Wand, während der Geruch des Blutes in der Luft lag, wie Eisen, wie eine Erinnerung an längst vergangene Tage. An eine Kindheit, an eine Zeit bei den Rebellen. Und dann drückte Ambrose fester zu, obwohl der Fremde nach ihm trat, und dann noch fester, so lange, bis das Herz des Fremden aufhörte zu schlagen.

Ein Thron aus Eis und AscheWhere stories live. Discover now