10 | Ambrose McLaren

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Ein paar Stunden später drückten sich Ambrose und Keavan an den Wänden entlang in Richtung Küche. Noch immer fragte sich Ambrose, woher Keavan wusste, wo die Kameras waren. Er hatte ihm im Badezimmer ihres Zimmers einen Plan aufgezeichnet und bisher schien er wirklich zu stimmen. Oder wer auch immer sie überwachte hatte Spaß, ihnen dabei zuzusehen, wie sie versagten.

Ambrose wusste nicht, warum er dem Fremden vertraute. Es stand zu viel auf dem Spiel, als dass er es hätte riskieren können. Andererseits, wenn er nicht wusste, wo die Kameras waren, hatte er vielleicht ohnehin keine Chance. Er glaubte nicht, dass er es durch diesen Wettbewerb schaffen würde, ohne aufzufliegen, wenn bereits am ersten Morgen jemand vermutet hatte, dass er ein Werwolf war.

Die Wächter hatten die Leiche des blonden Jungen kommentarlos weggeräumt und alle Männer, die sich das Zimmer teilte, befragt. Niemand von ihnen hatte etwas gesagt, was ihn hätte auffliegen lassen können, und niemand war verhaftet worden. Ambrose wusste nicht, ob Ermittlungen stattfanden, aber er vermutete es nicht. Der Palast hatte anderes zu tun, als den Tod von jemandem zu untersuchen, der früher oder später vielleicht sowieso gestorben wäre. Er machte sich nichts vor. Die Leben der Kandidaten waren für den König wertlos, außer sie gewannen den Wettbewerb. Und sterben bedeutete in dieser Situation automatisch verlieren.

„Hast du einen Schlüssel?", flüsterte Ambrose in die Dunkelheit, aber Keavan hatte die Türklinke zur Küche bereits hinuntergedrückt. Zögerlich folgte Ambrose ihm in die Küche. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, schaltete Keavan das Licht ein.

„Wie hast du das gemacht?", flüsterte Ambrose. Er traute sich noch nicht, laut zu sprechen. Was, wenn Keavan sich irrte? Wenn hier ebenfalls Kameras waren?

„Gewisse Leute nennen es Magie. Ich nenne es Intelligenz", antwortete Keavan. „Übrigens kannst du laut sprechen. Ich habe die Kameras deaktiviert."

„Du hast was?" Ambrose' Stimme überschlug sich.

„Die Kameras deaktiviert", sagte Keavan, als wäre es das Normalste der Welt. „Aber sei schnell, wir müssen hier raus sein, bevor sie es merken."

„Wie hast du die Kameras deaktiviert?" Nun konnte Ambrose nicht mehr leise sein. „Das ist nicht der Zeitpunkt für schlechte Witze! Wir könnten sterben, Keavan!"

„Das ist auch nicht der Zeitpunkt für Diskussionen", zischte Ambrose, der sich am Schrank unter dem Spülbecken zu schaffen machte. Ambrose sah nicht, ob der Schrank ein Schloss hatte, aber der dunkelhaarige Junge konnte ihn problemlos öffnen.

„Ich will das jetzt aber diskutieren", widersprach Ambrose. „Das ist eine Selbstmordmission!"

„Wenn du nicht sofort leise bist, dann ja. Hilf mir lieber tragen."

„Ich helfe dir gar nicht mehr."

Keavan begann, Glasflaschen aus dem Schrank zu räumen. „Entweder du hilfst mir oder du stirbst hier."

Nach kurzem Zögern hob Ambrose zwei der Flaschen hoch, die auf dem Boden standen. Er sagte nichts mehr, knirschte nur mit den Zähnen. Der dunkelhaarige Junge musste nur die Kameras wieder aktivieren – falls sie wirklich deaktiviert waren – und Ambrose wäre geliefert.

Wie hatte er sie überhaupt deaktiviert? Und wie hatte er die Tür geöffnet?

Gewisse Leute nennen es Magie. Ich nenne es Intelligenz.

„Warte."

Keavan, der wahrscheinlich gerade dabei war, eine Lösung zu finden, wie sie so viele Alkoholflaschen auf einmal tragen konnten wie möglich, sah hoch. „Was?"

„Du bist eine Fee!"

Keavan blinzelte. „Wie bitte?"

„Du hast mich schon verstanden." Ambrose ballte die Hände zu Fäusten. „Du hast Magie benutzt, um hier reinzukommen. Du hast Magie benutzt, um die Kameras zu deaktivieren. Und jetzt reißt du uns beide in den Abgrund!"

„Können wir das bitte draußen besprechen? Wir haben nicht mehr viel Zeit", zischte Keavan, während er weiter versuchte, die Alkoholflaschen hochzuheben, aber ohne Ambrose kam er nicht weit.

„Nein, wir besprechen das jetzt! Ich helfe keiner Fee!" Der Werwolf verschränkte die Arme vor der Brust. „Ihr seid hinterlistige Sadisten. Das weiß jeder. Es würde mich überraschen, wenn ich diese Küche lebend verlasse."

„Mich auch. Zumindest wenn du mir nicht bald hilfst."

„Was soll das hier? Ist das alles ein Spiel für dich?"

„Ich wollte nur eine Party feiern." Keavan fiel es hörbar schwer, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Mit einer fahrigen Bewegung streckte er Ambrose eine Flasche entgegen, die dieser nach kurzem Zögern entgegennahm.

„Morgen werden wir beide tot sein", fauchte Ambrose. „Sie werden dich erwischen und denken, ich hätte dich unterstützt."

„Hast du auch." Keavan streckte Ambrose eine weitere Flasche entgegen.

Ambrose starrte völlig überfordert auf den Wodka in seinen Händen. Er konnte der Fee nicht widersprechen, aber was Keavan behauptete, war trotzdem weit entfernt von der Wahrheit. Er hätte nie sein eigenes Leben riskiert, um einem Fabelwesen zu helfen, nicht einmal einem anderen Werwolf. Und erst recht keiner Fee ohne Flügel.

Ambrose musterte Keavan, aber er konnte keine Anzeichen darauf finden, zu welcher Sorte Fee dieser gehörte. Er hatte eine normale Haar- und Augenfarbe, keine Flügel. Eine Spiegelfee vielleicht, die mit Illusionen spielen konnte?

Ambrose hob zwei weitere Flaschen vom Boden auf, aber er wandte den Blick nicht von dem dunkelhaarigen Jungen ab. Eine kantige Gesichtsform, Augenbrauen in der Farbe seiner Haare, eine schmale Nase. Nichts, was darauf hindeutete, dass Keavan irgendetwas anderes als ein Mensch war.

Eine weitere Flasche. Keavan hob ebenfalls zwei auf, schloss den Rest dann wieder in den Schrank unter der Spüle und ging zur Tür. Als sie die Küche verließen, sah Ambrose einige Ascheflocken zu Boden rieseln.

Er kannte sich nicht gut mit Feen aus, aber er wusste, was Keavan war. Er biss sich auf die Unterlippe, um ihn nicht anzuschreien, und folgte ihm den dunklen Flur entlang, bis sie wieder in ihrem Zimmer waren.

Kaum hatte sich die Zimmertür hinter ihnen geschlossen, packte er Keavan an dessen schwarzen T-Shirt und zerrte ihn ins Bad, obwohl die Fee die Kameras in ihrem Zimmer garantiert deaktiviert hatte.

„Ich muss den Alkohol verstecken!", beklagte er sich, aber Ambrose beachtete ihn gar nicht. Er presste Keavan an die Wand im Badezimmer, an die gleiche Stelle, wo er heute Morgen den blonden Mann hingepresst hatte, aber vorsichtig, Keavans Haut nicht zu berühren.

„Du bist eine Aschefee", fuhr er ihn an. „Ich sollte dich umbringen."

„Versuch's doch", gab Keavan nur unbeeindruckt zurück.

„Was machst du in diesem Wettbewerb? Du weißt genau, dass hier keine Fabelwesen teilnehmen dürfen! Wenn sie dich erwischen, bringen sie dich um!"

„Dafür, dass du mich vorhin noch umbringen wolltest, bedeutet dir mein Leben plötzlich ziemlich viel."

„Tut es nicht! Aber mein Leben bedeutet mir viel und wenn wir jetzt beide sterben ..."

„Ich war vorsichtig", unterbrach Keavan ihn. „Wir können gar nicht erwischt werden."

„Ich habe die Ascheflocken gesehen", widersprach Ambrose. Wenn die am nächsten Morgen jemand findet ..."

„Niemand wird sie mit mir in Verbindung bringen. Ich habe meine Spuren verwischt. Und jetzt entschuldige mich." Keavan griff nach Ambrose' Händen, worauf diese sie ruckartig wegzog und einige Schritte nach hinten machte. Er hätte sich selbst dafür ohrfeigen können, dass er Angst zeigte, aber mit Aschefeen war nicht zu spaßen. Wenn sie wollten, reichte eine Berührung, um Dinge in Asche zu verwandeln. Keavan mochte die Figur eines Würstchens haben, aber Ambrose wollte gar nicht wissen, wie viele Leute er bereits umgebracht hatte.

„Was machst du hier?", zischte er, aber Keavan hatte das Bad bereits verlassen.

Ambrose ließ sich der Wand entlang auf den Boden sinken und starrte auf die Ascheflocken, die auf dem Boden klebten. Es war logisch, dass sich noch andere Fabelwesen in diesem Wettbewerb befanden. Wahrscheinlich hatte Keavan sogar das gleiche Ziel wie er.

Aber Ambrose würde es sein, der den König tötete. Und wenn er dafür zuerst Keavan töten musste, dann würde er es tun.

Ein Thron aus Eis und AscheWhere stories live. Discover now