27 | Ambrose McLaren

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Ambrose presste sich die Hände auf die Schläfen und wünschte sich, tot zu sein. Um sich abzulenken sah er Ella an, zeichnete mit den Augen jeden Zentimeter ihres Gesichts nach, ihre schmale Nase, ihre Wangenknochen, ihre vollen Lippen. Sie war eine Fremde. Eine wunderschöne Fremde. Aber sie hatte ihn noch nicht ausgeliefert, obwohl sie es locker gekonnt hätte. Obwohl sie es den Wächtern vor dem Test hätte sagen oder in diesem Raum aufstehen und es in die Kameras hätte sagen können. Vielleicht wäre sie dann sogar befördert und hier rausgelassen worden. Das bedeutete etwas. Es musste etwas bedeuten. Entweder er bedeutete ihr etwas oder sie hatte selbst Geheimnisse und wollte nicht, dass man sie genauer ansah. Ambrose war sich sicher, dass sie Geheimnisse hatte. Zumal er nichts über sie wusste.

Ella bemerkte seinen Blick und lächelte ein unsicheres Lächeln.

„Auch durstig?", fragte Ambrose, weil ihm keine andere Entschuldigung dafür einfiel, dass er sie angestarrt hatte, als dass er mit ihr hatte sprechen wollen.

Sie zuckte nur mit den Schultern und nickte. Teilnahmslos. Dabei war sich Ambrose sicher, dass sie genau so sehr am Verdursten war wie er. Seine Stimme war heiser, seine Kehle wie ausgetrocknet. Und nicht einmal Ella half ihm, den Raum auszublenden. Weder den stechenden Geruch der Kloecke noch die Diskussionen einiger Teilnehmenden noch den Durst. Ambrose war sich sicher, noch nie in seinem Leben so durstig gewesen zu sein.

Er wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren, vielleicht war bereits Nacht. Er hatte keinen Anhaltspunkt. Das Licht an der Decke war nicht ausgeschaltet worden.

Einige Männer hatten einen Pulk gebildet und warfen sich immer wieder gegen die Tür, aber es war ihnen anzusehen, dass sie immer schwächer wurden. Trotzdem kamen immer mehr Männer hinzu, aber die Tür öffnete sich nicht. Irgendwann waren sie zu viele und einige von ihnen rannten gegen die Wand statt gegen die Tür, bis sie sich blutige Nasen holten.

Ambrose' Kopf tat weh und er presste sich die Hände erneut gegen die Schläfen. Er fürchtete sich davor, eingesperrt zu sein, vielleicht, weil er wusste, wie gefährlich es war, mit ihm eingesperrt zu sein. Immerhin hatte der Raum keine Fenster. Kein Mondlicht konnte hereinfallen, das ihn in einen Werwolf verwandeln konnte.

„Lasst uns ein Spiel spielen, um nicht verrückt zu werden", sagte Keavan. Widerwillig und in Ambrose' Fall in der Hoffnung, dass ihm diese Strategie Pluspunkte bringen würde, stimmten Ambrose, Ella und Tai zu. Jetzt gerade waren die Geheimnisse vergessen, die zwischen ihnen standen. Jetzt gerade wollten sie nur überleben.

„Ich sehe was, was du nicht siehst", sagte Tai, deren Stimme nur noch ein Krächzen war. „Und das ist weiß."

Keavan zeigte auf die Wand ihnen gegenüber. „Die Wand", sagte er.

Tai verneinte.

Keavan zeigte auf die Wand links von ihnen. „Diese Wand?"

Tai verneinte wieder.

Keavan zeigte auf die Wand rechts von ihnen. „Wir haben einen Gewinner!", rief Tai, bevor er überhaupt fragen konnte. Ihre Stimme war purer Sarkasmus.

Ambrose lachte staubtrocken auf und war sich noch sicherer als vorher, dass er wahnsinnig werden würde. Dass er hier drin sterben und niemand seine Leiche je finden würde.

Wie viele Tage waren bereits vergangen? Einer? Zwei? Langsam löste sich der Raum in seine Bestandteile auf, nichts machte mehr Sinn. „Ich bin der Mörder!", schrie irgendwann jemand, aber nichts veränderte sich. Die Tür blieb verschlossen. Die Diskussion auf der anderen Seite des Raumes hatte sich in eine Schlägerei verwandelt, der stechende Geruch von Urin mischte sich mit dem metallischen Geruch von Blut. Einige Teilnehmenden waren bewusstlos geworden, Ella war irgendwann halb auf Ambrose gefallen und er hatte sich nicht die Mühe gemacht, wegzurutschen. Sie sah so zerbrechlich aus, blass, als würden sie nur noch Stunden vom Tod trennen. Vielleicht war das auch der Fall. Vielleicht war das bei ihnen allen der Fall.

Ambrose glaubte langsam, dass das hier keine psychologische Folter war. Es war ihr Tod. Ihr sicherer Tod.

Er hatte versagt. Er hatte sich nicht rächen können. Er würde sich nie rächen können.

Ambrose sah auf Ella hinunter. Er wollte etwas sagen, eine Entschuldigung, ein Dankeschön, weil sie ihn nicht ausgeliefert hatte, aber er hatte keine Kraft mehr.

Er wusste, dass er die Augen nicht schließen durfte, weil er sie womöglich nicht mehr öffnen würde, aber es gelang ihm nicht mehr, sie offenzuhalten.

Dann wurde der Schlüssel im Schloss der Tür gedreht und Ambrose riss die Augen schlagartig wieder auf. Er wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war, ob er überhaupt bewusstlos gewesen war, da war nur noch Verwirrung. Männer, die zur Tür stürmten. Tai, die an Keavan rüttelte, um ihn aufzuwecken. Ella, die immer noch bewusstlos war. Ambrose war überrascht, dass seine Beine ihn noch trugen, als er Ella von sich schob und aufstand. Einen Moment lang sah er auf das bewusstlose Mädchen hinunter, dann bückte er sich und hob sie kurzerhand hoch. „Sie braucht einen Arzt!"

Er schleppte sich aus dem Raum, einen Flur entlang, bis zur Krankenstation, die ein Wächter ihm zeigte. Jemand nahm ihm Ella ab. Dann wurde die Welt schwarz.

Das Nächste, woran Ambrose sich erinnerte, war ein weißes Bett. Eine Nadel in seinem Arm. Und Ella, die im Bett neben ihm lag und ihn aus dem Augenwinkel ansah. Niemand von beiden sagte etwas. Sie lagen nur schweigend nebeneinander.

Ein Thron aus Eis und AscheDove le storie prendono vita. Scoprilo ora