30 | Tai Lennox

37 10 1
                                    

Tai kam nicht dazu, zu essen. Sie hatte sich gerade mit ihrem Teller Kartoffelauflauf hingesetzt, als ein Wächter sich neben den Tisch stellte. „Tai Lennox?", fragte der Mann, der nicht viel älter aussah als sie.

„Ja?", fragte Tai und hoffte, dass man ihr nicht ansah, wie nervös sie war. Hatten sie herausgefunden, dass sie mit Keavan befreundet war? Dass sie von seinem Geheimnis wusste und ihn nicht ausgeliefert hatte? Aber warum hatten sie Keavan dann noch nicht verhaftet?

Oder hatte es gar nichts mit Keavan zu tun und sie hatten über ihre Geschäfte mit Drogen herausgefunden? In der Gang hatte Tai ihren richtigen Namen verwendet, aber illegale Geschäfte hatte sie unter einem falschen Namen gemacht. Vielleicht hatte der Palast es herausgefunden.

„Kommen Sie mit", sagte der Wächter. „Wir würden Ihnen gerne einige Fragen stellen."

Mit einem hilfesuchenden Blick zu Ella stand Tai auf und folgte dem Wächter aus dem Raum.

Der Raum, in dem sie verhört wurde, war bei den Verliesen unten, dunkel und fensterlos. Die einzigen Möbel waren ein Tisch und zwei Stühle, nur noch die Hälfte der Leuchtstoffröhren an der Decke funktionierten.

Tai setzte sich auf einen der Stühle, der Wächter setzte sich ihr gegenüber.

„Tut mir leid, dass ich Sie beim Essen unterbrochen haben. Sie können später essen." Die Stimme des Wächters klang vordergründig freundlich, aber eine gewisse Kälte schwang darin mit. Tai wusste, dass es ihm egal war, ob sie aß – zumindest, wenn sie sich als schuldig herausstellte.

„Ich würde Ihnen gerne einige Fragen über Ihre ... Freunde stellen. Wie viel wissen Sie über Ella Smith?", fragte der Wächter.

„Nicht viel", sagte Tai. Es war die Wahrheit. Obwohl sie offiziell ihre Freundin war, wusste sie nicht viel über Ella. Die ehemalige Schönheitskönigin war verschlossen, was ihre Vergangenheit betraf. Tai fragte sich, ob es einen bestimmten Grund dafür gab. Ob außer dem Brand in ihrem Haus noch etwas anderes vorgefallen war. Oder ob sie einfach nur gelernt hatte, ihre Persönlichkeit vor der Öffentlichkeit zu verstecken.

„Irgendetwas müssen Sie doch wissen. Sie teilen sich ein Zimmer mit Ella. Stimmen die Gerüchte über den Hausbrand?", fragte der Wächter.

„So weit ich weiß ja", sagte Tai. „Sie hat es zumindest gesagt."

„Was ist mit Ambrose McLaren? Wir konnten nichts über ihn in den Akten finden", sagte der Wächter. „Er scheint nicht zu existieren. Bis er acht Jahre alt war, ist er in die Grundschule in Veso gegangen, aber danach war er einfach weg."

Tai runzelte die Stirn. Sie war überrascht, dass Ambrose nicht probiert hatte, sich eine falsche Vergangenheit zuzulegen. Vielleicht hatte er auch einfach nur nicht die Mittel dafür gehabt. „Gibt es wirklich keine Akten über ihn?", fragte sie, um sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. „Es gibt doch über jeden Akten. Selbst über mich und ich habe auf der Straße gelebt."

„Nein. Er hat vor einigen Jahren einmal kurz in einer Fabrik gearbeitet, danach ist er wieder verschwunden", antwortete der Wächter. „Hat er Ihnen etwas über seine Vergangenheit erzählt?"

„Nein. Nur, dass jemand aus seiner Familie einen Unfall hatte, als er acht war. Sein Bruder, glaube ich. Sein Bruder ist gestorben. Vielleicht ist er deswegen nicht mehr zur Schule gegangen", log Tai.

Der Wächter machte sich Notizen. „Noch etwas Anderes? Sie hängen alle ziemlich viel zusammen rum."

„Mehr weiß ich auch nicht. Ambrose ist eigentlich eher Keavans Freund."

„Keavan. Über ihn wollte ich Sie auch noch etwas fragen. Ein anderer Teilnehmer hat Keavan verdächtigt, die Aschefee zu sein. Finden Sie, dieser Verdacht ist plausibel?"

Tai dachte an Riya und daran, dass sie nur wenige Worte davon trennten, ihre Freundin zu retten. Keavan auszuliefern.

„Keavan eine Aschefee?" Sie lachte. „Dafür ist er nicht intelligent genug."

„Dann halten Sie viel von Aschefeen?"

„Nein. Das war nur ein Witz, weil man ihnen nachsagt, hochintelligent zu sein, und es mich bei Keavan schon gewundert hat, dass er den Intelligenztest bestanden hat." Tai setzte sich auf ihre Hände.

„Sie und Keavan, sind Sie ..."

„Ein Paar? Ja", unterbrach Tai ihn und wollte ihren Kopf am liebsten gegen eine Wand schlagen. Sie und Keavan, ein Paar! Aber er hatte recht – es war die einfachste, glaubwürdigste Lüge.

„Dann wissen Sie auch, wo er zum Zeitpunkt des Mordes von Lorenz Shaw war?", fragte der Wächter. „Wir haben keine Kameraaufzeichnungen von ihm."

„Unter der Trauerweide. Mit mir. Deswegen weiß ich, dass er nicht die Aschefee ist. Ich habe ihn zum Zeitpunkt des Mordes gesehen ... sehr gut gesehen, wenn Sie wissen, was ich meine." Tai wackelte mit den Augenbrauen. Wenn sie schon log, dann richtig.

Der Wächter verzog das Gesicht.

„Wollen Sie Details?" Es machte langsam Spaß, den Wächter zu provozieren, der wahrscheinlich hin- und hergerissen war dazwischen, so viele Informationen wie möglich sammeln zu wollen, um die Aschefee zu finden, und so wenig wie möglich darüber wissen zu wollen, was Tai und Keavan unter der Trauerweide getan hatten.

„Lieber nicht." Er kritzelte auf seinem Notizblock herum, wahrscheinlich nur, um sie nicht ansehen zu müssen. „Wissen Sie denn etwas über Keavans Vergangenheit?"

Nun wünschte Tai sich, die offizielle Version zu kennen. Keavan hatte sicher gefälschte Aufzeichnungen. Aber was besagten sie? „Dies und das", sagte sie. „Nur vereinzelte Partygeschichten. Man hat hier nicht wirklich Zeit, sich richtig kennenzulernen."

Der Wächter zog die Augenbrauen hoch. „Aber Zeit für Sex schon?"

„Man hat immer Zeit für Sex", sagte Tai und wollte am liebsten im Boden versinken. Sie steuerte sich weiter und weiter in diese Geschichte hinein und es gab keinen Weg hinaus, ohne zuzugeben, dass sie gelogen hatte. Und sie behauptete lieber, dass sie mit Keavan im Bett, beziehungsweise unter der Trauerweide, war, statt im Verlies zu landen.

„Ich glaube, wir haben genug über Keavan geredet", sagte der Wächter. „Ich würde Ihnen gerne noch einige Fragen über die Zeit stellen, als sie im Raum eingesperrt waren."

Tai ließ die Fragen über sich ergehen, obwohl ihr Kopf angefangen hatte, sich die Szene mit Keavan bildlich vorzustellen und sie es nicht verdrängen konnte, egal, wie sehr sie es versuchte. Nicht einmal nur, weil er ein Mann war, sondern weil er Keavan war.

Sie hätte ihn ausliefern sollen, schon nur, um diese Unterhaltung nicht führen zu müssen.

Ein Thron aus Eis und AscheWhere stories live. Discover now