26 | Tai Lennox

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Tai wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Mittlerweile brauchte sie all ihre Selbstbeherrschung, um ihren Kopf nicht gegen eine der weißen Wände zu schlagen. Zuerst Lizzys Tod, dann die Festsellung, dass Ambrose ein Werwolf war, und jetzt das eingesperrt sein in diesem Raum. Mittlerweile fühlte sich die Zwanzigjährige, als könne sie nicht mehr atmen.

Sie vermisste ihre Familie. Sie vermisste Riya. Sie vermisste die Leute aus der Gang. Sie vermisste sogar die Straße, den Geruch von Regen auf dem Asphalt, das Gefühl von Freiheit in den Stunden nach Mitternacht, wenn nicht mehr wirklich heute war, aber auch noch nicht wirklich morgen.

Sie hatte die Straße oft gehasst. Ihr Rücken hatte geschmerzt von ihrer Matratze hinten in einem verlassenen Laden, ihre Haut war verbrannt worden, wenn sie wieder stundenlang in der Sonne auf eine Person gewartet hatte, mit der sie einen Deal ausgehandelt hatte, und von den Möglichkeiten, zu duschen, wollte sie gar nicht erst anfangen.

Aber auf der Straße hatte sie immer genau gewusst, wer sie war. Wo sie hingehörte.

„Gruppensitzung!", sagte ein rothaariger Mann namens Alister irgendwann und klatschte so lange in die Hände, bis alle Teilnehmenden in einem Kreis auf dem Boden saßen. „Hat irgendjemand etwas herausgefunden?", fragte er dann. „Irgendeinen Hinweis auf den Ausgang?"

Die Teilnehmenden schüttelten die Köpfe.

„Ich glaube, das ist ein psychologischer Test", sagte jemand, von dem Tai glaubte, dass er Cornelius hieß. Er sah aus, als wäre er schon Ende 30, und war damit wahrscheinlich einer der ältesten Teilnehmer im Wettbewerb. „Sie wollen herausfinden, wie wir uns in einer Extremsituation verhalten. Isoliert, ohne Schlaf, Essen oder Wasser. In einer solchen Situation könnten wir uns als Leibgarde ja auch mal befinden."

Einige anderen stimmten ihm zu.

„Wenn ich sterbe, dürft ihr mich nicht essen", sagte Bryan.

Tai verzog das Gesicht. „Selbst wenn ich Neigungen zum Kannibalismus hätte, würde ich dich garantiert nicht essen, Bryan."

Keavan lachte laut los, einige der anderen stimmten zögerlich mit ein. Bryan stand von seinem Platz auf, sah auf Tai hinunter und ballte die Hände zu Fäusten. „Was hast du gesagt?"

Tai erwiderte seinen Blick. Sie hatte keine Angst vor Bryan. Sie kannte Typen wie ihn. Viele Worte, ein paar Muskeln und nicht viel dahinter. In einem Zweikampf hätte sie ihn locker ausschalten können. Vielleicht wollte sie sogar gegen ihn kämpfen. Das würde sie ablenken. „Dass du stinkst", sagte sie.

Bryan machte einen Schritt auf sie zu und Tai stand ebenfalls auf. Mit ihren ein Meter sechzig musste sie den Kopf in den Nacken legen, um ihn ansehen zu können.

„Sag das noch einmal", sagte Bryan.

„Du. Stinkst."

„Schlägereien helfen uns nicht weiter!", sagte Keavan.

„Mir schon", erwiderte Tai, setzte sich aber trotzdem wieder hin. Er hatte recht. Ein Zweikampf mit Bryan hätte wahrscheinlich Punktabzug gegeben, vielleicht sogar bedeutet, dass sie aus dem Wettbewerb flog. Die Leibgarde musste als Team zusammenarbeiten. Tai fühlte sich durch die kinnlangen schwarzen Haare und fühlte sich auf einmal ziemlich dumm. Fast hätte sie es riskiert, Riya zu verlieren, nur wegen ihrer eigenen Aggressionsprobleme. Als wäre es nicht genug, dass sie bereits zwei Leben ruiniert hatte. Drei, wenn man ihr eigenes mitzählte.

„Hat jemand eine Uhr oder einen Weg, wie wir die Zeit messen können?", fragte Alister in die Runde.

Wieder nur Kopfschütteln war die Antwort. Sie hatten Uhren und Handys am Eingang abgeben müssen und nun abgesehen von ihrem eigenen Hunger und Durst keine Möglichkeit, zu messen, wie viel Zeit vergangen war. Tais Kehle war mittlerweile ausgetrocknet und in ihrer Blase drückte es, aber es gab hier keine Toilette.

„Wasser wird wahrscheinlich unser größtes Problem sein", sagte sie. „Theoretisch kann man Urin trinken, aber auf Dauer macht es nur noch durstiger." Sie hatte sich dieses Wissen auf der Straße angeeignet, wenn das Wasser knapp geworden war.

„Was ist mit Blut?", fragte Bryan mit einem provokanten Blick in ihre Richtung.

„Es überrascht mich, dass du beim Intelligenztest nicht durchgefallen bist", sagte Ambrose.

Tai sah ihn von der Seite an, überrascht, dass er ihr half. Aber vielleicht war er auch nur genervt von Bryan.

„Was soll das denn jetzt heißen?", fragte Bryan.

„Dass man Blut nicht trinken kann." Ambrose ballte die Hände zu Fäusten, so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. „Aber bei deinem würde ich es trotzdem versuchen. Wir haben es schon schwer genug ohne dich."

„Wir haben es auch schwer genug ohne eure Aggressionsprobleme", erwiderte Bryan.

„Du bist das einzige Problem hier."

„Ihr fliegt noch alle raus, wenn ihr euch immer streitet", sagte Keavan.

„Ich beseitige nur Störfaktoren! Bryan trägt nichts Produktives zur Diskussion bei", sagte Ambrose.

„Welche Diskussion?", fragte jemand. „Wir wissen ja alle nicht, was wir tun sollen."

„Dann sollten wir vielleicht versuchen, eine Lösung zu finden", sagte Alister.

„Es gibt keine Lösung", sagte Keavan. „Sie foltern uns psychisch und sehen, wie wir reagieren. Zumindest vermute ich das. Also würde ich euch raten, einfach still zu sein, eure Würde zu behalten und einen Ort zu suchen, wo ihr aufs Klo gehen könnt."

„Die Ecke dort drüben ist ab jetzt die Kloecke." Alister zeigte in eine Ecke des Raums. „Und wenn jemand eine Lösung findet, wie wir Wasser bekommen oder hier rauskommen, muss er sie sofort mit der Gruppe teilen. Die Sitzung ist beendet."

Einige der Teilnehmenden begannen wieder, die Wände abzutasten, jemand machte sogar eine Räuberleiter, damit jemand anderes die Decke abtasten konnte. Einige anderen kehrten an ihre Plätze zurück, wieder andere benutzten die Kloecke.

Psychische Folter. Es fühlte sich wirklich so an.

Ein Thron aus Eis und AscheWhere stories live. Discover now