39 | Tai Lennox

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Tai war überrascht, dass der Palast sie nicht getötet hatte. Schließlich war sie verantwortlich für den Tod eines Adligen. Aber sie hatten sie nur in den Kerker unter dem Palast gesperrt, in die Zelle neben Bryan. Wahrscheinlich würden sie in ein anderes Gefängnis transportiert werden, wenn der Wettbewerb vorbei war. Darauf zu hoffen, dass sie je wieder das Tageslicht sehen würde, war wahrscheinlich vergeblich.

Sie hatte versagt. Sie würde Riyas Leben nicht retten können. Sie würden beide für den Rest ihres Lebens im Gefängnis sitzen und sich wahrscheinlich trotzdem nie wieder sehen. Menschen wurden in andere Gefängnisse gesperrt als Magische Wesen.

Sie hatte versagt. Sie hatte versagt. Sie hatte versagt. Sie hatte versagt.

Am liebsten hätte Tai ihren Kopf gegen die Wand geschlagen, bis die Worte an Bedeutung verloren, bis sie aufhörte zu fühlen, aufhörte zu existieren.

Aber was wäre die Alternative gewesen? Hätte sie einfach sterben sollen? Dann hätte sie Riya auch nicht retten können.

„Ist Badger noch am Leben?", fragte jemand aus der Zelle neben ihr. Sie hatte ihn davor gar nicht bemerkt, aber nun sah sie hinüber. Es war ein junger Mann mit blonden Haaren, der ihr vage bekannt vorkam. Er musste auch im Wettbewerb gewesen sein, aber sie wusste nicht mehr, warum oder wann er rausgeflogen war.

„Wer ist Badger?", fragte Tai.

„Er war ein Freund von mir. Auch im Wettbewerb. Er hat beim Test im weißen Raum gesagt, dass er der Mörder ist. Ich habe nicht mitbekommen, was danach mit ihm passiert ist, weil ich wegen dem Streit mit dir aus dem Wettbewerb geflogen bin", sagte der blonde Mann.

Wegen dem Streit mit ihr? Bryan. Natürlich.

„Nein, er ist tot", sagte Tai. „Er wurde umgebracht."

Bryan zog die Augenbrauen zusammen. „Umgebracht?", fragte er mit unsicherer Stimme. „Von wem?"

„Weiß man nicht. Es gibt einen Mörder im Wettbewerb, den sie noch nicht gefunden haben."

„Badger war schon das zweite Magische Wesen, das umgebracht wurde. Meinst du, das ist Zufall?"

„Badger war ein Magisches Wesen?", fragte Tai. Sie hatte nicht wirklich mit ihm geredet, aber wenn wirklich nur Magische Wesen umgebracht wurden, musste sie die anderen warnen. Ella, Ambrose und Keavan. Wobei, Keavan vielleicht nicht. Er hatte sie ausgeliefert, nicht einmal versucht, ihr zu helfen.

Aber selbst wenn sie ihn hätte warnen wollen, sie hätte es nicht gekonnt. Sie war eingesperrt.

„Badger war eine Erdfee", sagte Bryan. „Er konnte Erdbeben auslösen. Ziemlich nutzlose Fähigkeit, wenn du mich fragst, aber die Tatsache, dass er ein Magisches Wesen war, hat gereicht. Es würde mich ja nicht wundern, wenn der Palast sie selbst umbringt."

„Das solltest du lieber nicht sagen", sagte Tai. „Hier sind sicher überall Kameras." Besonders, weil er womöglich recht hatte. Der Palast hatte die Magischen Wesen sicher nie im Wettbewerb gewollt und ließ sie nur teilnehmen, um vor den Leuten gut dazustehen. Der König wollte sicher nicht, dass jemand von ihnen gewann. Deswegen hatten Ella, Ambrose und Keavan ja versteckt, dass sie Magische Wesen waren.

„Nein, wir werden nicht überwacht. Wahrscheinlich hat der Palast keine Ressourcen mehr dafür. Ich habe die Zelle abgesucht", sagte Bryan.

„Und ich soll dir vertrauen?", fragte Tai.

„Du verlierst ja nichts. Hör dir nur meine Theorie an. Der Palast weiß ja, dass eine Aschefee im Wettbewerb ist, oder? Und wenn die Aschefee jetzt plötzlich anfängt, Leute umzubringen, hat das für den Palast zwei Vorteile. Erstens kann er beweisen, dass Aschefeen böse sind. Und zweitens suchen jetzt alle Teilnehmenden die Aschefee. So kann der Palast die Aschefee und gleichzeitig andere Magische Wesen aus dem Wettbewerb eliminieren, ohne dass die Öffentlichkeit die Schuld auf ihn schiebt."

In eine solche Richtung hatte Tai auch schon gedacht. „Aber warum hat Badger gesagt, dass er der Mörder ist?", fragte sie. Die Frage war nur ein Strohhalm. Weil Bryans Theorie logisch klang. Und weil ihre Freunde in Gefahr waren, wenn sie stimmte.

„Wahrscheinlich weil er dachte, dass wir ohnehin alle sterben, wenn sich der Mörder nicht meldet", sagte Bryan. „Er hat so etwas angedeutet, als er davor mit mir geredet hat. Glaubst du mir?"

„Nein", antwortete Tai, falls es in den Zellen doch Kameras gab, obwohl sie ihm glaubte. Die Asche am Tatort der Morde, obwohl diese zumindest laut Keavan nicht von einer Aschefee begangen wurde. Badger, der starb, obwohl niemand im Wettbewerb einen Grund gehabt hatte, ihn umzubringen.

Tai musste ihre Freunde warnen. Der Palast führte garantiert noch einmal Backgroundchecks durch, wenn nur noch so wenig Leute im Wettbewerb waren. Und wenn aufflog, dass sie Magische Wesen waren, waren sie so gut wie tot. Um Ambrose machte sie sich am meisten Sorgen. Ella und Keavan hatten jahrelange Erfahrung damit, zu verstecken, dass sie Magische Wesen waren, aber Ambrose hatte nicht einmal versucht, sich eine falsche Backgroundgeschichte zuzulegen. Bisher war er vielleicht noch nicht aufgeflogen, aber der Palast konnte bestimmt noch weiter gehen. Und vielleicht würden sie irgendeinen Hinweis darauf finden, dass er ein Werwolf war.

Tai musste irgendwie aus dieser Zelle rauskommen. Jetzt noch mehr als vorhin. Sie musste ihre Freunde retten und sie musste Riya retten. Sie konnte nicht versagen. Es standen zu viele Leben auf dem Spiel.

„Angenommen, ich würde dir glauben", sagte sie. „Hypothetisch. Würdest du mir helfen, hier rauszukommen? Ich würde dir im Gegenzug auch helfen."

Nun riskierte sie es doch, dass es Kameras in der Zelle gab. Viel hatte sie ohnehin nicht zu verlieren. Wenn sie für den Rest ihres Lebens in einer Gefängniszelle festsaß, war sie ohnehin nutzlos. Dann konnte sie genau so gut sterben.

„Klar. Was ist dein Plan?", fragte Bryan.

Tai fuhr sich mit den Händen durch die Haare. „Ich habe noch keinen. Aber wir müssen den Schlüssel von einem Wachmann stehlen. Vielleicht kann ich ihn stehlen, wenn du ihn ablenkst."

„Machen wir." Bryan lachte. „Ich kenne ein paar wirklich gute Witze."

Ein Thron aus Eis und AscheWhere stories live. Discover now