16 | Ambrose McLaren

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Ambrose konnte noch immer nicht ganz glauben, dass er gestern Ella wirklich sein Tattoo gezeigt hatte, aber jetzt gerade hatte er andere Dinge im Kopf. Verzweifelt starrte er auf das Blatt auf dem Tisch vor ihm. Wenn man nur diesen Raum hier ansah konnte man fast vergessen, dass man in einem Palast gelandet war. Die Wände waren weiß und es gab keine Dekoration, nur Einzeltische, die mit Wänden voneinander getrennt waren. „Wie in der Schule", hatte vorhin jemand kommentiert, aber Ambrose wusste nicht, ob das stimmte. Die Prüfungen, die er geschrieben hatte, hatten sich auf einfache Dinge wie das Alphabet und das kleine Einmaleins beschränkt und niemand hatte sich die Mühe gemacht, Wände aufzustellen, damit man nicht abschreiben konnte.

Ambrose war ein guter Schüler gewesen. Die zwei Jahre, die er in der Schule gewesen war, hatten die Lehrer ihn gemocht und er hatte gute Noten geschrieben. Die Bestnoten seiner Klasse.

Und dann waren sie auf Klassenfahrt gefahren und der Mond war durch das Fenster hineingefallen. Nur ein paar Mondstrahlen, die auf das falsche Bett gefallen waren. Ein achtjähriger Ambrose, der sich zum ersten Mal in einen Wolf verwandelte.

Blut auf den Betten, den Wänden, seinen Händen. Blumen an ein Krankenhaus gesendet, die nichts wiedergutmachten. Die ganze Familie hatte fliehen müssen und seine Eltern hatten nicht versucht, Ambrose wieder zur Schule zu senden.

Nun sah er sich die Textaufgaben auf dem Blatt vor sich an und versuchte vergeblich, sie zu verstehen. Er konnte die Worte lesen, wenn er sich konzentrierte, zumindest die einfachen, aber er verstand die Sätze kaum, geschweige denn von den Zahlen. Leere Linien auf dem Blatt vor ihm. Durch die Wände hörte er das Kritzeln von Stiften, das Rascheln von Blättern, die umgedreht wurden. Schweißtropfen sammelten sich auf seiner Stirn.

Er hatte nicht mit einem Intelligenztest gerechnet. Selbst ein weiterer Schwertkampf gegen Ella wäre ihm lieber gewesen, als wegen seiner mangelnden Schulbildung aus dem Wettbewerb zu fliegen.

In der anderen Ecke des Raumes schlug jemand gegen die Holzwand, immer wieder, bis das dünne Holz krachte. Ambrose' letzte Konzentration zersplitterte in seine Einzelteile und er ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass sich seine kurzen Fingernägel in seine Handflächen gruben. Am liebsten hätte er dem Mann den Hals umgedreht, aber er hörte nur den Schritten der Wächter zu, die sich einen Weg zwischen den Holzkammern hindurch bahnten, wahrscheinlich, um den Mann aus dem Raum zu zerren. Er schrie und wehrte sich, gefolgt von den Rufen anderer Teilnehmer, die ebenfalls die Konzentration verloren hatten.

Die Arbeit wurde schnell wieder aufgenommen, es wurde still im Raum.

Jedoch nicht für lange. Wenige Minuten später klopfte jemand an die Wand neben Ambrose. Der Werwolf stieß ein frustriertes Knurren aus, aber dann fiel ihm auf, dass dieses Klopften kein frustriertes Schlagen war. Es war gezielt. Morsezeichen.

Ella.

Sie musste sich daran erinnert haben, was er ihr gestern erzählt hatte.

Ambrose sah sich um, um zu vergewissern, dass niemand es bemerkte, dann begann er hastig, die Antworten auf das Blatt zu kritzeln, die Ella ihm buchstabierte. Es dauerte wahnsinnig lange und er wusste nicht mal, ob er die richtigen Antworten den richtigen Fragen zuordnete, aber er hatte keine Wahl.

Sein Test war erst halb ausgefüllt, als die Zeit abgelaufen war. Ein Wächter sammelte die Blätter ein, fünf andere die Wände. Ambrose' Augen trafen Ellas. Er nickte als Antwort auf ihren fragenden Blick und sie lächelte unsicher. Die Spannung, die gestern Abend noch zwischen ihnen geherrscht hatte, war verschwunden. Ella schien ihm verziehen zu haben, dass er ihr keine Antwort auf die Frage nach seinem Tattoo gegeben hatte, oder zumindest tat sie so.

Aber es gab Fragen, die konnte man in den Fluren eines Palastes nicht beantworten.

Fragen nach der eigenen Vergangenheit zum Beispiel. Zumindest wenn diese Fell und Blut und Rebellion beinhaltete.

Ella verschwand in der Menge und Ambrose verließ zusammen mit den anderen Teilnehmenden den Raum. Der Test hatte vier Stunden gedauert, als Nächstes auf dem Plan stand Mittagessen. Ausnahmsweise war Ambrose nicht hungrig. Wahrscheinlich hatte er im Intelligenztest versagt, trotz Ellas Hilfe. Er würde aus dem Wettbewerb ausscheiden und sich weder am König noch an der Rebellion rächen können. Ein Versager.

Ambrose setzte sich auf seinen Stammplatz im Esssaal und beobachtete abwesend Keavan und Tai. Keavan griff nach Tais Hand und sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Zog ihre Hand weg und griff nach ihrem Buttermesser, als würde sie ihm die Kehle aufschlitzen wollen. Er lachte nur.

Ambrose stocherte in seinem Teller herum. Wenn der Palast ihn nicht ins Verlies sperrte, würde er zu den Rebellen zurückkehren müssen. Er wusste nicht, was von beidem schlimmer war. Dieser Wettbewerb war seine einzige Chance gewesen, sich zu beweisen. Zu beweisen, dass er nicht nutzlos war. Und gleichzeitig war es seine einzige Chance gewesen, sich zu rächen. An all den Menschen, die ihm alles genommen hatten.

Er hatte seine Familie nicht retten können und nun versagte er erneut. Wegen Worten und Zahlen. Wegen Text- und Matheaufgaben, die er nicht verstand. Er war auf die Hilfe einer Fremden angewiesen gewesen und nicht einmal das hatte gereicht. Selbst wenn er den Test ganz hätte ausfüllen können, wusste er nicht, ob Ella ihm die richtigen Antworten gegeben hatte. Vielleicht hatte sie ihn absichtlich manipuliert, damit er ausschied. Nur weil sie betrunken zusammen geredet hatte, musste das schließlich nicht heißen, dass er ihr vertrauen konnte. Er konnte niemandem vertrauen, erst recht nicht hier.

Ein Thron aus Eis und AscheTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang