9 | Ambrose McLaren

50 13 0
                                    

Schüsse zerfetzten die Luft, die Rufe der Demonstranten verblassten. Ambrose ließ sich auf den Boden fallen, aber nicht, um sich selbst zu schützen, sondern weil dort Blut auf dem Asphalt war. Das Blut eines Werwolfs.

Ambrose' Bruder schnappte nach Luft. Es war ein röchelnder, verzweifelter Atemzug, während sich die Demonstration um sie herum auflöste. Weitere Schüsse fielen, weitere Leute gingen zu Boden.

„Stirb nicht!", schrie Ambrose, und es war ihm egal, ob er damit auf sich aufmerksam machte. Sein Schrei ging ohnehin im Lärm der Menge unter. Der Tod seines Bruders war nur einer von vielen, ersetzbar. Trotzdem fühlte es sich an, als hätte die Kugel Ambrose' Herz getroffen. Als wäre er es, der starb.

„Sag Mom, dass ich sie liebe", röchelte Wilson.

„Das kannst du ihr selbst sagen", sagte Ambrose und hievte sich Wilson kurzerhand über die Schultern. Er brach beinahe unter dem Gewicht seines Bruders zusammen, auch wenn dieser fünf Jahre jünger war als er. Zwölf. Zu jung zum Sterben.

Keuchend schleppte sich Ambrose vorwärts, suchte mit den Augen nach Leuten, die er kannte, aber niemand machte Anstalten, ihm zu helfen. Alle waren auf sich selbst fokussiert, auf ihr eigenes Überleben.

„Hilfe!", schrie Ambrose, so laut er konnte. Wut und Verzweiflung lagen in seiner Stimme, Tränen sammelten sich in seinen Augen. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal geweint hatte, aber jetzt, zwischen Rauch, Blut und Schritten fliehender Demonstranten, zerbrach er in seine Einzelteile. Selbst als er einige Rebellen sah, neben denen er beim Essen öfter gesessen hatte, versuchten sie nicht, ihm zu helfen. Die Gruppe hatte ihn aufgegeben.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie zwei Wachen näherkamen, und egal, wie sehr er sich anstrengte, er war zu langsam. Jeder seiner Schritte war ein Marathon, jeder seiner Atemzüge vergeblich. Sie kamen näher, Gewehre im Anschlag. Und Ambrose tat, was er tun musste.

Er ließ seinen Bruder fallen und rannte. Er rannte so lange, bis er die Demonstration nicht mehr hören konnte und da nur noch sein keuchender Atem und sein eigenes Schluchzen war. Bis alles sich auflöste und er fiel. Bis er immer weiter fiel.

Als er aufwachte, hatte er das Gefühl, immer noch zu fallen. Immer noch nicht atmen zu können.

Aber er konnte sich jetzt nicht darauf konzentrieren. Irgendwie musste er Luft holen und weitermachen. Er war spät dran. Eigentlich hatte er sich nach dem Test nur kurz hinlegen wollen, jetzt blieben ihm laut der Lautsprecherdurchsage, die ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, nur noch zehn Minuten, um es zum Abendessen zu schaffen. Schnell zog er sich ein T-Shirt über den Kopf und fuhr sich mit den Händen durch die Haare, die bereits wieder zu lang waren und ihm ins Gesicht fielen. Dann rannte er auf den Flur hinaus.

Er schaffte es eine Minute bevor sich die Türen schlossen zum Esssaal. Mangels einer besseren Alternative ließ er sich auf den Stuhl neben dem dunkelhaarigen Mann fallen, mit dem er sich ein Zimmer teilte.

„Oh, du hast es doch noch geschafft", kommentierte dieser. „Ich habe schon überlegt, ob ich dich wecken soll."

„Und du hast es nicht getan", erwiderte Ambrose.

„Nein, du bist zu starke Konkurrenz."

„Ich hätte das Gleiche getan."

Der Mann säbelte sein Fleisch klein. „Sympathisch", sagte er und Ambrose konnte nicht sagen, ob er es ernst oder sarkastisch meinte. „Was war nochmal dein Name?"

„Ambrose", erwiderte Ambrose. „Und deiner? Kevin oder so?"

„Keavan", korrigierte der Mann.

„Ich habe noch nie jemanden getroffen, der sein Kind so nennen würde."

„Ich auch nicht."

Ambrose zog die Augenbrauen zusammen, aber Keavan ging nicht darauf ein. „Ich habe gehört, dass wir heute Abend freihaben", sagte er, ohne auf eine Antwort des Werwolfs auf seine vorherige Aussage zu warten. „Stiehlst du den Alkohol aus der Küche oder soll ich?"

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir dafür aus dem Wettbewerb fliegen", knurrte Ambrose.

„Möchtest du darauf wetten, wie viel die anderen Wächter trinken? Das gehört zum Job. Und selbst wenn. Wir werden nicht erwischt. Ich weiß, wo die Kameras sind", sagte Keavan so leise, dass es hoffentlich nur Ambrose hören konnte.

Ambrose warf Keavan einen Seitenblick zu. „Woher weißt du das?"

„Ich habe meine Quellen. Also, hilfst du mir? Du siehst aus, als könntest du viel tragen." Keavan zeigte mit der Gabel auf Ambrose' Arme.

Ambrose senkte die Stimme. „Nur wenn du mir den Standort jeder einzelnen Kamera in diesem Gebäude gibst."

„Deal."

Ein Thron aus Eis und AscheWhere stories live. Discover now