44 | Tai Lennox

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Die Flure des Palastes waren leer. Tai suchte im Esszimmer nach ihren Freunden, dann in ihrem eigenen Zimmer und am Ende sogar im Flügel der Männer, aber sie fand niemanden von ihnen. Am Ende entschied sie sich, in ihr Zimmer zurückzukehren, um sich erst einmal frisch zu machen. Obwohl es nur zwei Tage waren, die sie in der Gefängniszelle verbracht hatte, fühlte sie sich schmutzig, als hätte sie seit Wochen nicht geduscht.

Ihr Fluchtplan war nicht weit gekommen. Sie war heute Morgen freigelassen worden, mit der Begründung, dass Keavan gestanden hatte. Was er gestanden hatte, wusste sie nicht, aber nun fürchtete sie sich um ihn. Hatte er seine Mission aufs Spiel gesetzt, um ihr zu helfen? Und wo war er jetzt? Wo waren sie alle?

Tai duschte, band ihre nassen Haare zu einem niedrigen Knoten und zog saubere Kleidung an, eine lockere schwarze Kunstlederhose und einen engen schwarzen Pulli. Sie wusste nicht, ob heute eine Prüfung stattfand und ob sie zu spät dafür war, aber die Angestellten hatten ihr gesagt, dass sie in den Wettbewerb zurückkehren durfte, deswegen hoffte sie, dass sie nichts Wichtiges verpasste.

Weil niemand ihr gesagt hatte, dass sie irgendwo sein musste, legte sie sich ins Bett. Jetzt spürte sie die beiden Nächte in der Zelle. Obwohl es im Zimmer taghell war, war sie innerhalb kurzer Zeit eingeschlafen.

Sie wurde von jemandem geweckt, der an ihre Tür hämmerte. Umständlich setzte sie sich auf, rieb sich die Augen und kletterte vom Bett hinunter, um zu öffnen.

Ambrose stand davor. Als er sie sah, sah sein Gesichtsausdruck aus, als würde er innerlich zusammenbrechen. „Wenigstens du lebst noch", sagte er und klang dabei, als wäre es ihm egal, dass sie noch lebte.

Tai blinzelte. „Wenigstens ich? Was ist passiert?"

Ambrose drängte sich ungefragt an ihr vorbei ins Zimmer, ließ sich auf Ellas Bett fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Seine Schultern bebten. Es sah aus, als würde er ... weinen? Aber das war unmöglich. Jemand wie Ambrose McLaren weinte nie.

Die leeren Flure. Ella, die nicht im Zimmer war. Keavan, von dem die Angestellten ihr gesagt hatten, dass er gestanden hatte.

„Ambrose, was ist passiert?", fragte sie noch einmal, dieses Mal lauter. Am liebsten hätte sie geschrien. Wenn ihren Freunden etwas passiert war, würde sie den ganzen Palast zusammenschreien, alles in Schutt und Asche legen. Und dafür brauchte sie keine Aschefee zu sein.

Ambrose sah hoch. Tränen glitzerten in seinen Augen. „Keavan ist tot", sagte er mit tonloser Stimme. „Er hat sich gestellt, um dich zu retten."

Tais Welt brach in sich zusammen und Tai mit ihr. Bis da nur noch Scherben waren. Scherben in ihrer Lunge, mit denen sie nicht mehr atmen konnte. „Warum hat er das getan?"

„Weil er ein Held sein wollte", sagte Ambrose. „Und weil du ihm etwas bedeutet hast."

Er hatte ihr auch etwas bedeutet. Zu viel dafür, dass er zuerst nur ein Typ gewesen war, der versucht hatte, mit ihr zu flirten, und nicht verstanden hatte, dass sie lesbisch war. Aber die Sache mit Keavan war die, dass er einen zwar oft nervte, aber dass er den Wettbewerb trotzdem besser gemacht hatte. Dass er sie zum Lachen gebracht hatte, wenn es niemand sonst gekonnt hatte. Keavan war die Art von Person, bei der man es sofort merkte, wenn sie weg war.

Womit Tai nicht gerechnet hatte, war, dass Ambrose wegen Keavan weinte. Sie hatte geglaubt, Keavan hätte ihn noch mehr genervt als sie. „Ist sonst noch etwas passiert?", fragte sie. „Wo ist Ella?"

„Wir waren gerade bei der Hinrichtung." Ambrose' Stimme brach. „Sie hat den Platz unter Wasser gesetzt und wurde verhaftet."

„Sie hat was?"

Ambrose fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. „Ella heißt eigentlich Elawa und ist eine Dracai. Ich nehme an, dass sie wegen ihrer Emotionen ihre Magie nicht mehr kontrollieren konnte. Und deswegen ist sie aufgeflogen. Ich weiß nicht, was sie jetzt mit ihr machen. Vielleicht richten sie sie hin. Nur, weil sie es können."

„Dann sind es also nur noch wir zwei. Und was machen wir?", fragte Tai. Sie fühlte zu viel. Konnte noch immer nicht atmen. Wenn sie den Adligen gerettet hätte, wäre Keavan jetzt noch am Leben. Vielleicht hätte sie Riya nicht retten können, aber Keavan wäre nicht gestorben. Was von beidem war besser? Sie wusste es nicht.

„Was wir davor auch machen wollten. Wir versuchen, den Wettbewerb zu gewinnen", sagte Ambrose. Er hatte recht. Der Wettbewerb war bald zu Ende und wenn sie ihn gewannen, konnten sie nicht nur den König töten, sondern auch Elawa retten, falls sie bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht hingerichtet worden war. Aber was Ambrose nicht wusste, war, dass den Wettbewerb zu gewinnen wahrscheinlich schwieriger werden würde als gedacht. Zumindest für ihn. Sie musste ihn einweihen in das, was Bryan gesagt hatte. Sonst war Ambrose ebenfalls in Gefahr. Und obwohl er immer derjenige ihrer drei Freunde gewesen war, der ihr am wenigsten bedeutet hatte, konnte sie ihn nicht auch noch verlieren.

„Ich brauche ein wenig frische Luft", sagte sie. „Kommst du mit nach draußen?"

„Zur Trauerweide?", fragte Ambrose. Die Trauerweide war mittlerweile ein Code geworden, wenn sie etwas besprechen wollten.

„Ja."

„Wir können nicht bis zum Ende des Wettbewerbs warten", sagte sie, als sie unter der Trauerweide standen. „Die Leute, die bisher umgebracht wurden, waren alles Magische Wesen."

„Denkst du, Keavan ist wirklich der Mörder?", fragte Ambrose.

„Nein. Ich denke, der Palast ist der Mörder. Er hat sie umgebracht und die Schuld auf die Aschefee geschoben, weil er die Magischen Wesen im Wettbewerb loswerden wollte. Und wenn sie in den Backgroundchecks herausfinden, dass du ein Werwolf bist, bist du in Lebensgefahr", sagte Tai. „Außerdem haben sie sich bei Keavan nur einen Tag Zeit gelassen, um ihn hinzurichten. Was ist, wen sie bei Elawa das Gleiche tun?"

„Guter Punkt." Ambrose rieb sich den Nacken. Die Tränenspuren in seinem Gesicht waren mittlerweile getrocknet, aber seine Augen waren immer noch gerötet. „Und das mit den Magischen Wesen glaube ich sofort. Das passt zum Palast. Was schlägst du vor?"

Tai überlegte einen Moment. „Wir retten sie heute Nacht. Riya und Elawa. Und dann fliehen wir. So weit weg von hier wie möglich", sagte sie dann.

Sie rechnete damit, dass Ambrose widersprach, weil sie in diesem Plan den König nicht umbrachten, aber er nickte. Wahrscheinlich hatte er begriffen, dass sie nicht alles haben konnten. Oder Elawa bedeutet ihm einfach mehr als die Rebellion. „Wo wird Riya gefangen gehalten?", fragte er.

„Im Zentralgefängnis in der Stadt, im Flügel für Magische Wesen. Es liegt ziemlich nahe beim Palast, weil der König manchmal Magische Wesen für bestimmte Aufgaben braucht. Ich finde, wir sollten zuerst Riya retten, weil Elawa zu retten gefährlicher ist. Wenn wir Riya zuerst befreien, kann sie uns helfen, Elawa zu retten."

„Es gibt ein Problem", sagte Ambrose. „Ich weiß, wo die Kameras sind. Sie sind überall an der Palastmauer. Außer ..."

„Außer?"

„Außer beim Labyrinth."

Tai wollte nicht ins Labyrinth zurückkehren. Sie fürchtete sich noch immer davor, mit Ambrose dort eingesperrt zu sein. Aber sie hatte keine Wahl. „Dann eben durchs Labyrinth", sagte sie.

Ein Thron aus Eis und AscheWhere stories live. Discover now